Kirche&Staat

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III. KIRCHE IM KAPITALISMUS

EINE DENKSCHRIFT

Ein Schritt vor, zwei zurück

NOCH EINE DENKSCHRIFT

Rehabilitierung der Jesuitenmoral

EIN WELTKATECHISMUS

Ein »Jahrhundert-Fiasko«

DER GANZ GEWÖHNLICHE KLERIKALISMUS

Christliche Kirche oder politische Partei?

KIRCHENGESCHICHTSSCHREIBUNG DER SIEGER

Wie ein böser Staat eine gute Kirche nötigte

EINE ALTERNATIVE VORLESUNG

Kirche im Kapitalismus

EINE DENKSCHRIFT

Ein Schritt vor, zwei zurück

[in: Weißenseer Blätter 4/1992, S.6-12]

Gemeinwohl und Eigennutz - Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1991

Wirkungsgeschichten gehen manchmal seltsame Umwege. Ausgerechnet der EKD-Denkschrift »Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie« verdankten ausgerechnet die »Weißenseer Blätter« 1985 eine bundesdeutsche Pressepublizität, die sie auf dem geraden Weg der Werbung niemals hätten finanzieren können. Dabei hatten die WBI damals lediglich die Frage gestellt, ob die Denkschrift aus der »FdGO« eine Bekenntnisschrift zu machen gedenke. Und gefragt wurde allerdings auch, wie wohl die EKD reagieren würde, sollte der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR eine analoge Erklärung abgeben. Letzteres war zwar nicht ernsthaft zu erwarten, aber in Bonn und Köln und Frankfurt am Main löste offensichtlich allein schon der bloße Gedanke daran erschrockene Reaktionen aus. Das wird sich heute nicht wiederholen. Und dabei hätte man gerade auch in Köln Grund genug, die Stellungnahmen zu der jüngsten EKD - Denkschrift argwöhnisch zu studieren - und noch argwöhnischer die Denkschrift selbst. Die nämlich liest sich, stellenweise, wie eine kategorische Absage an Geist und Logik des real existierenden Kapitalismus in der BRD.

Bereits das Vorwort zielt faktisch auf eine Revolutionierung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, wenn hier, geradezu programmatisch, als Aufgabe formuliert wird: »Strukturen zu schaffen, in denen sich Selbsterhaltung und Sorge für sich selbst mit Fürsorge für andere und Rücksicht auf das gemeinsame Leben verbinden« (S. 9). Eine wirklich spektakuläre Forderung, auch wenn sie ganz offensichtlich nicht an der Bergpredigt ausgerichtet ist, der es ja keineswegs um das aristotelische Mittelmaß einer ausgewogenen und also erfolgreichen Verbindung von Egoismus und Altruismus, sondern eben darum geht, die »Sorge für sich selbst« als das Kainszeichen des der Welt und sich selbst verfallenen Menschen prinzipiell abzuweisen (Mt. 6, 25ff.). Aber auch die Denkschrift weiß um dieses Kainszeichen, wenn sie betont:« Der Titel soll aufmerken lassen: Gemeinwohl und Eigennutz. Das Verhältnis beider Größen zueinander ist spannungsvoll. Eigennutz zeigt sich nicht selten« - und das kann sinnvoll nur heißen: er zeigt sich in der Regel - »in der Gestalt eines rücksichtslosen Egoismus« (ebd.) .

Diese Kritik ist drastisch, zumal der die Gesellschaft nicht selten total dominierende rücksichtslose Egoismus auch mit deutschen Klarnamen benannt wird. Und der lautet: »Gewinn«, d.h. Profit. Und tatsächlich steht denn auch im Vorwort der Denkschrift der denkwürdige Satz: »Gewinnorientierung und Wettbewerb sind nicht Sinn und Ziel des Wirtschaftens, sondern lediglich Instrumente, die der Versorgung mit notwendigen Gütern dienen« (ebd.).

Die Wirtschaft nicht am Profit, sondern an der Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Gütern zu orientieren, das kommt der Aufforderung gleich, in der großen BRD die kleinen DDR-Verhältnisse einzuführen - es sei denn, man rechnet auch Überfluß und Luxus zu den notwendigen Gütern. Aber davon ist in der Denkschrift nirgends die Rede. Wohl aber steht in ihr der sicher noch folgenreiche Satz: »Die Vision einer auf das Gemeinwohl und den Schutz der Schwachen ausgerichteten Gesellschaft ist mit dem Ende des ›real existierenden Sozialismus‹ nicht einfach erledigt« (S. 13).

Keine EKD-Denkschrift hat sich wie diese dadurch ausgezeichnet, richtige Fragen zu stellen, zudem noch rein rhetorisch und also provokant. Was kann man vor dem Hintergrund der wachsenden sozialen, ökologischen, politischen Probleme in der BRD schon ernsthaft antworten, wenn die von der Denkschrift allerdings immer groß geschriebene »Soziale Marktwirtschaft« konfrontiert wird mit der Frage: »Leistet sie, was von ihr erwartet wird? Wird sie den Anforderungen , die an sie gestellt werden müssen, gerecht? Ist sie verträglich in sozialer Hinsicht, im internationalen Kontext, für den Lebensraum der Erde und mit der demokratischen Ausübung und Kontrolle von Macht?« (S. 12)

Im Blick auf bestimmte soziale Biotope ließe sich in der Tat sagen: »Die Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft sind offenkundig. Aber im Blick auf die Welt, in der wir leben, bleiben zutiefst beunruhigende Fragen. Sie werden lebendig gehalten von der fortbestehenden und wachsenden Not in vielen Ländern der Zweiten und Dritten Welt, von der Bedrohung der natürlichen Grundlagen des Lebens und von der anhaltenden Ausgrenzung von Minderheiten in Arbeitslosigkeit und Armut« (ebd.). Man sollte vielleicht noch einmal prüfen, ob sich verträglich von »Minderheiten« reden läßt, wenn Arbeitslosigkeit und Armut in Millionen gerechnet werden müssen. Doch diese Frage tritt ohnehin hinter die weit entscheidendere zurück. Und diese lautet: »Stehen diese und andere krisenhafte Erscheinungen in einem ursächlichen Zusammenhang mit der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsstruktur ?« (ebd.)

Und damit noch nicht genug. Die Denkschrift erinnert an »tiefverwurzelte und traditionsreiche christliche Vorbehalte gegen die kapitalistische Wirtschaftsweise und ihren Einfluß auf die Einstellung und die alltägliche Lebensführung der Menschen« und fragt, abermals provozierend rhetorisch: »Führen wirtschaftliches Wachstum und materieller Erfolg nicht zu immer größerer Abhängigkeit der Menschen von ökonomischen Kategorien? Haben Wettbewerb und Konkurrenz nicht zerstörerische Folgen für das soziale Zusammenleben?« (S. 13)

Wer viele Fragen stellt, der stellt massiv in Frage. Und die Denkschrift erinnert sogar ausdrücklich daran, daß »kritische Anfragen« dieser Art »oft als systemverändernd verdächtigt« wurden (S. 11). Und was dann in dem Teil I »Herausforderungen an die Zukunftsfähigkeit wirtschaftlichen Handelns« aufgeführt wird, drängt den Schluß geradezu auf: ohne Veränderung des weltweit herrschenden Systems der Marktwirtschaft wird diese Welt keine Zukunft haben.

Die Denkschrift benennt als Herausforderung vier Problemkreise, die eigentlich alle einen globalen Charakter tragen: 1. die drohende ökologische Katastrophe; 2. die Verelendung der Dritten Welt; 3. die strukturelle Arbeitslosigkeit und 4. die fast grenzenlose Macht der großen Konzerne. Diese vier Problemanzeigen enthalten wesentliche Aussagen.

1. »Über Grenzen und Kontinente hinweg wächst die Einsicht, daß die Erde als Lebensraum der Menschen und aller Lebewesen in einem noch nicht dagewesenen Ausmaß bedroht ist« (S. 18). Die Zerstörung der Biosphäre, die Ausrottung der Artenvielfalt, die Vernichtung der Ökosysteme sind »Ausdruck und Folge eines Denkens, das die natürliche Mitwelt des Menschen fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des kurzfristigen ökonomischen Nutzens betrachtet. Im Rahmen des herrschenden Zivilisationsmodells ist der Gedanke, daß die Mitgeschöpfe des Menschen mehr sind als bloße Verfügungsmassen und daß sie einen eigenen Wert und Sinn besitzen, nahezu geschwunden. Dominierend ist die Fragestellung: Wie müssen Gesellschaft und natürliche Mitwelt organisiert werden, um ein wirtschaftliches Optimum zu erreichen?« ( S. 19 ) Weil die ökologische Krise durch die Eigendynamik der Marktwirtschaft erzeugt wird, reichen zu ihrer Überwindung individuelle Verhaltensänderungen nicht aus. Hierzu bedarf es - und zwar »dringend« - »struktureller Maßnahmen« (ebd.) und also grundsätzlicher Veränderungen der Wirtschaftsmechanismen.

2. Zu grundsätzlichen Veränderungen nötigt auch die weltweit wachsende Verarmung. Die »wirtschaftliche Verelendung der meisten Länder der Dritten Welt nimmt noch zu. Die reichen Länder werden immer reicher, die armen immer ärmer« (S. 22). Die Ursache hierfür liegt z. T. bei den sog. Oberschichten der sog. Entwicklungsländer. »Oft teilt eine kleine reiche Oberschicht die Macht praktisch unter sich auf. Sie genießt Privilegien im Blick auf Einkommen und Großgrundbesitz .... bis dahin, daß sie von jeglicher Einkommenssteuerzahlung freigestellt ist. Die Führungsschicht der Industrieländer läßt das Verhalten der Oberschicht in den Entwicklungsländern häufig unbeanstandet - ja unterstützt es noch, indem sie diese Oberschicht einseitig als Gesprächs- und Handelspartner bevorzugt« (S. 24). Die Ausplünderung der Dritten Welt durch nationale »Eliten« ist eingebunden in internationale »Verhältnisse struktureller Ungerechtigkeit« (S. 21). Und so ist auch die »Schuldenkrise« ein Ausdruck struktureller Ungerechtigkeiten, die auf internationaler - und der jeweiligen nationalen - Ebene bestehen« (S. 23).

3. »Wie im internationalen Maßstab so führt auch im Blick auf die Bundesrepublik Deutschland die Forderung sozialer Gerechtigkeit zu dringlichen Anfragen an die gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnisse« (S. 26). »Zu einer schweren Belastung sind ... in den letzten Jahren die Folgen der strukturellen Arbeitslosigkeit geworden« (S. 27). »Seit rund 15 Jahren ist die Zahl der als arbeitslos registrierten Menschen in der alten Bundesrepublik sehr hoch.« »Je länger die Arbeitslosigkeit andauert, desto gravierender sind die Folgen für die Betroffenen und ihre Familien« (ebd.). Es »entstehen in wachsendem Umfang Lebensbedingungen, die unter dem Begriff der ›neuen Armut‹ zusammengefaßt worden sind« (S. 28). Im krassen Gegensatz dazu hat sich die »Gruppe der Spitzenverdiener... in der Nachkriegszeit mit der Höhe ihres Einkommens immer weiter vom Durchschnitt entfernt. Entsprechend klafft die Vermögensverteilung auseinander. Die Spitzenverdiener konnten ungefähr so viel Vermögen ansammeln wie alle statistisch erfaßten 26 Millionen Normalhaushalte zusammen« (ebd.). Besonders dramatisch entwickelt sich die Situation in Ostdeutschland, denn es ist zu befürchten, »daß alle früheren westlichen Bekundungen der Solidarität mit dem Osten Deutschlands nur Lippenbekenntnisse waren« und »die neuen Bundesländer auf lange Zeit nur als Absatzmarkt interessant sind« (S. 26).

4. »Es ist angesichts fortschreitender Konzentration, die zur Bildung immer gewaltigerer Konzerne führt, vor allem die Macht der großen Unternehmen, die vielfach als Herausforderung, wenn nicht gar als Bedrohung der Demokratie empfunden wird. Beherrschen sie nicht die Märkte, beeinflussen sie nicht die Politik auf eine Weise, die für eine Demokratie unerträglich ist? Ist ihre Macht mit dem pluralistischen Demokratieverständnis der westlichen Tradition vereinbar, das doch besagt, daß nicht allein ein gesellschaftliches Interesse die Politik dominieren soll? Wie verhält sich Wirtschaftsmacht zu dem demokratischen Prinzip, daß Macht, die im Raum des öffentlichen Lebens ausgeübt wird, nach bestimmten Regeln verantwortet und kontrolliert werden soll. Alle diese Fragen gewinnen besonderes Gewicht angesichts des rasch fortschreitenden Prozesses der Internationalisierung der großen Konzerne. Denn diese Internationalisierung ... bedeutet zugleich ..., daß es für die Staaten immer schwieriger wird, mit dem Instrument des nationalen Rechts wirksame Kontrollen über sie auszuüben« (S. 30).

Allein schon diese vier Problemanzeigen verdichten sich zu einem Fazit, das für die am Gewinn orientierte Marktwirtschaft, auch für die als »sozial« apostrophierte, vernichtend ausfällt: Die Wirtschaft ruiniert das Ökosystem der Erde; ihre international wirkenden Strukturen stabilisieren nicht nur die Ausbeutung in der Dritten Welt, sie führen auch ihrerseits zu einer weltweiten Verelendung, die selbst in den »reichen Ländern« ein (quantitativ und qualitativ) permanent wachsendes Ausmaß angenommen hat; mit den Mitteln der Politik läßt sich diese Situation nicht verändern, denn die Politik ist entweder von den Interessen des Kapitals dominiert und also schon längst im Dienst der Wirtschaftsmächte - oder sie ist ohnmächtig. Der Teufelskreis ist geschlossen. Und er zieht alles in seinen Bann.

So ist der »Wettbewerb« zwar »ein zentrales Moment jeder Marktwirtschaft« (S. 37), doch ist er »unbarmherzig« (ebd.), denn er wird »vom Gewinnmotiv gesteuert« (S. 39). »Häufig wird er mit großer Härte ausgetragen. Wenn ein Betrieb im Wettbewerb nicht mehr mithalten kann, verbindet sich dies für die betroffenen Menschen in der Regel mit Existenzfragen«. »Darum wird Wettbewerb unter ethischen Gesichtspunkten vielfach nicht vorrangig als Entmachtungsinstrument und Bollwerk gegen die egoistische Ausbeutung der einen durch die anderen betrachtet, sondern als Aufforderung an die Menschen, ihren egoistischen Antrieben zu folgen. Er gilt unter diesen Voraussetzungen als ein bedenklicher Mechanismus« (S. 37f.).

Zwar wird in der fiktiven Theorie der Marktwirtschaft einer sog. »Konsumentensouveränität« das Wort geredet, die besagen soll, daß letztlich alle Konsumenten mit ihrer Konsum - Entscheidung darüber mitbestimmen, wie die Ressourcen eines Landes eingesetzt und verteilt werden. Aber die Praxis der Marktwirtschaft zeigt geradezu das Gegenteil, denn: »Die Höhe der Kaufkraft bestimmt das Maß, in dem die einzelnen Konsumenten ihre prinzipielle Entscheidungsberechtigung tatsächlich ausüben können. Wer wenig Kaufkraft hat, kann seine Bedürfnisse nur in begrenztem Maß befriedigen und ist an der Entscheidung über den Ressourceneinsatz auch nur in dem entsprechend geringen Umfang beteiligt« (S. 36).

Was für die sog. »Konsumentensouveränität« gilt, gilt im Monopolkapitalismus natürlich auch für den Wettbewerb selbst. Zwar lautet der Grundsatz: »Ohne funktionierenden Wettbewerb gibt es keine Marktwirtschaft« (S. 43). Aber: »Der Konzentrationsprozeß hat in der Bundesrepublik Deutschland nach Feststellung der Monopolkommission bedenkliche Formen angenommen. In immer mehr Fällen kommt es zu einer Übernahme kleinerer Unternehmen und damit der Ausschaltung von Wettbewerbern.« »Die Machtstellung von Großbanken und Versicherungen wird vielfach als besorgniserregend angesehen. Die Übernahme monopolähnlicher Firmen in der ehemaligen DDR durch bundesdeutsche Marktführer ist auf große Bedenken gestoßen« (S. 43f.).

Freilich stieß sie nur auf »große Bedenken«, nicht etwa auf eine politisch wirksame Intervention. Denn es läßt sich zwar behaupten: »Marktwirtschaft ermöglicht Gewaltenteilung zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht« (S. 59). Doch de facto verbleiben der Politik höchstens »Handlungsspielräume« (S. 66ff.); und selbst diese werden von der Wirtschaft weitgehend besetzt, was zur »Dominanz der Unternehmerinteressen in den politischen Entscheidungsprozessen und Einflußnahme etwa durch die Gewährung von Vorteilen« (S. 63) führt. »Der politische Einfluß der Wirtschaft wird häufig - und nicht zu Unrecht - vor allem mit Geld in Verbindung gebracht« (ebd.). Aber nicht allein durch »Korruption«, »Parteispenden« und Wahlkampfgelder (ebd.) werden »Unternehmerinteressen« durchgesetzt. »Regierungen und Verwaltungen sind intensiver Beeinflussung durch Wirtschaftsinteressen insbesondere dann ausgesetzt, wenn sie entweder als Auftraggeber oder als Subventionsträger wichtig sind« (S. 63f.). Durch die »bürokratisch - industriellen Interessenverflechtungen« wird »die Gewaltenteilung zwischen politischer und wirtschaftlicher Macht ... faktisch aufgehoben« (S. 64). »Als besonders anfällig ... haben sich immer wieder die Beziehungen zwischen dem Staat und der Rüstungswirtschaft erwiesen, aber auch ... die zwischen Kommunalverwaltungen und der Bauwirtschaft« (ebd.).

Im Interessenkonflikt zwischen »Kapital und Arbeit« (S. 47) ist das Kapital inzwischen sogar so stark, auf Verpflichtungserklärungen von Ministern und Staatssekretären verzichten und dabei auch noch das informelle Einverständnis der Gewerkschaften einholen zu können, denn: »Politisch stark sind wirtschaftliche Partikularinteressen vor allem, wenn sie mit dem Argument, daß es um die Erhaltung von Arbeitsplätzen gehe, operieren können« (S. 64). Das bedeutet aber: das Kapital kann gar kein politisches Interesse daran haben, die Arbeitslosigkeit zu verringern oder gar abzuschaffen. Im Gegenteil. Je höher die Arbeitslosigkeit, desto profitabler läßt sich mit dem Argument der Arbeitsplatzerhaltung operieren.

Eine EKD-Denkschrift, in der so prägnante politische und ökonomische Zusammenhänge freigesetzt werden, dürfte Seltenheitswert haben. Und offensichtlich hat das die Verfasser selber so irritiert, daß sie ihren Textentwurf ausgewogen überarbeiten mußten. Natürlich ist das nur eine Vermutung. Aber mit ihr ließe sich erklären, warum die Denkschrift - aufs Ganze gesehen - etwas ganz anderes sagt, als sie eigentlich sagen will. Die Denkschrift will doch tatsächlich sagen: »Die Soziale Marktwirtschaft hat sich in der Bundesrepublik Deutschland in über 40 Jahren prinzipiell bewährt. Sie erlaubt ein sachgerechtes und zugleich menschengerechtes wirtschaftliches Handeln« (S. 117).

Vor dem Hintergrund der in der Denkschrift benannten Probleme und Entwicklungen wirkt eine solche Bilanz geradezu irrational - es sei denn, man teilt die Bilanzen der Deutschen Bank und gehört zu den Siegern des Wettbewerbs. Die Denkschrift hat sich aber die »Aufgabe gestellt, im Blick auf das wirtschaftliche Handeln eine Ortsbestimmung aus evangelischer Sicht vorzunehmen« (ebd.). Auch wenn nicht deutlich wird, was in diesem Zusammenhang »Ortsbestimmung« heißen soll - aus evangelischer Sicht hätte sich die Denkschrift in ihrer Bilanz von jenem Ort bestimmen lassen müssen, an dem nicht die Sieger, sondern die Verlierer der Marktwirtschaft leben. Aus der Sicht der Opfer, die allein in der BRD inzwischen Millionen zählen und deren Wachstumsrate permanent anhält, hat sich die Marktwirtschaft nicht bewährt. Eine Wirtschaftsordnung, in der die Arbeitskraft ebenso zur Ware wird wie die Wohnung, in der Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit also zum System gehören, ist nicht »menschengerecht«, sondern menschenrechtsfeindlich. Und sie ist nicht zukunftsfähig. Auch letzteres wird in bestimmten Textschichten der Denkschrift durchaus eingestanden. Jedenfalls läßt es sich mühelos erheben. Und es widerspiegelt wohl auch die z. T. sehr kontroverse Diskussion innerhalb des Verfasserkreises, wenn das staatskirchliche Credo »Christen können dem Weg der Sozialen Marktwirtschaft grundsätzlich zustimmen« (ebd.) faktisch der Unglaubwürdigkeit überführt wird, denn: »Ob eine bestimmte marktwirtschaftliche Praxis zukunftsfähig ist, entscheidet sich daran,

·        ob sie der weiteren Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens Einhalt gebieten und ein Einverständnis zwischen Mensch und Natur bewahren kann,

·        ob sie auf der globalen Ebene ihren Einfluß zugunsten einer gerechteren Gestaltung der Weltwirtschaft geltend macht,

·        ob sie auf der nationalen Ebene vor dem Maßstab der sozialen Gerechtigkeit standzuhalten vermag und

·        ob sie sich mit der Grundentscheidung für eine demokratische ... Ordnung des Gemeinwesens als verträglich erweist« (S. 117f.).

Wer die Zukunftsfähigkeit der Marktwirtschaft allein an diesen vier Kriterien mißt, der kann doch nur noch resignieren, denn für diese Zukunftsfähigkeit gibt es nicht ein einziges Indiz. Es gibt nur Beweise für die Zukunftslosigkeit. Das haben einige der Verfasser offensichtlich ähnlich gesehen. Und so ist in der Denkschrift denn auch von einem »Umdenken« die Rede, das der »Gesamtheit der Einstellungen gelten« müsse, »die sich mit der Wirtschaft, ihren Leistungen und Erfolgen verbinden« (S. 126). »An verschiedenen Krisenerscheinungen ist in der Gegenwart unübersehbar geworden, daß die vorherrschenden Ziele und Wertvorstellungen die Zukunftsfähigkeit der Zivilisation gefährden« (S. 125). In einer Denkschrift, die unter dem Vorsitz von Trutz Rendtorff erarbeitet wurde und die sogar das »Konzept des ›demokratischen Sozialismus‹, wie es in der SPD vertreten wird«, unter Hinweis darauf ablehnt, »daß es gerade die im Sinne einer Sozialen Marktwirtschaft, also in gewisser Weise ›kapitalistisch‹ organisierten Gesellschaften sind, die der (sc. sozialistischen) Zielvorstellung noch am nächsten kommen« (S. 121) - in einer solchen Denkschrift darf das mit Alternativen verbundene Wort vom »Umdenken« natürlich nicht zu einem Schlüsselwort werden. Es muß nicht ein »tiefgreifendes Umdenken« (S. 125) einsetzen und gar gesellschaftlich relevante Strukturen bekommen, es müssen lediglich, wie es nun in der Einleitung zum Teil IV »Ergebnisse, Folgerungen, Perspektiven« heißt, »die nötigen Kurskorrekturen vorgenommen
werden« (S. 117).

Wo nur »Kurskorrekturen« vorgenommen zu werden brauchen, da besteht kein Grund zur Resignation! Diese Botschaft der Denkschrift richtet sich vor allem auch an die Ostdeutschen, die den Einmarsch der »Sozialen Marktwirtschaft« als soziale Katastrophe erleben und »aus heutiger Sicht« jene sozialen Errungenschaften der DDR erst richtig zu schätzen beginnen, die auch die Denkschrift zu konzedieren gezwungen ist: »Die kostenlose medizinische Versorgung, die preiswerten Krippen- und Kindergartenplätze, billiges Wohnen, niedrige Tarife für Verkehrs- und Energieleistungen - alle diese Elemente ›sozialistischer Errungenschaften‹ konnten, obwohl ihre Problematik bekannt war, gegen die Mängel des Systems aufgerechnet werden« (S. 31). Offensichtlich aber fällt ihr diese Konzession sehr schwer, denn sonst hätte sie sich nicht zu dem Satz verstiegen: »Große Teile der Bevölkerung in der DDR lebten - wenn auch auf niedrigerem Niveau als die Bevölkerung in der alten Bundesrepublik Deutschland - in relativer Existenzangst. Das Recht auf Arbeit war verwirklicht in dem Sinne, daß jeder ein Einkommen hatte und dafür auch einige Arbeit zugewiesen bekam« (ebd.).

Der soziale Kontrast zwischen der BRD und der DDR darf nicht zu deutlich werden: nicht etwa die ganze Bevölkerung, sondern nur »große Teile« lebten, nicht etwa in absoluter, sondern nur in »relativer Existenzsicherheit«. Und natürlich arbeitete man im Osten nicht so wie im Westen - die Leute bekamen lediglich »einige« Arbeit »zugewiesen«.

Das hat BILD-Zeitungsniveau. Und die Verfasser haben dabei nicht einmal bemerkt, daß die DDR so weit entwickelt noch gar nicht war, wie sie hier beschrieben wird. Auch in ihr galt (leider) immer noch der Grundsatz: Erst die Arbeit, dann das Geld. Was aber viel schlimmer
ist - die Verfasser haben auch nicht bemerkt, daß sie mit ihrem Verständnis von »Bevölkerung« Millionen Menschen ausgrenzen. Wenn »große Teile der Bevölkerung in der DDR« auf »niedrigerem Niveau als die Bevölkerung« in der BRD gelebt haben, dann gehören die Millionen BRD-Bürger unterhalb des durchschnittlichen DDR-Lebensniveaus nicht mehr zur BRD-Bevölkerung. Der Satz müßte also wenigstens so lauten: Die DDR-Bürger haben unter dem Niveau großer Teile der Bevölkerung der BRD gelebt. Und selbst dieses stimmt nur, wenn die garantierte Sicherheit sozialer Existenz nicht zum Lebensniveau gerechnet wird.

Die Denkschrift geht davon tatsächlich aus und verrechnet denn auch die existenzbedrohende »Erwerbslosigkeit« einfach unter die »großen Lebensrisiken« - neben »Unfall«, »Krankheit« und »Tod« (S. 135).

Arbeitslosigkeit als schicksalhaftes Naturereignis! Das wird ein DDR-Bürger kaum akzeptieren. Und wenn er gar einmal gelernt haben sollte: die »in gewisser Weise ›kapitalistisch‹ organisierte Gesellschaft« zerfällt in Kapital und Arbeit - wird er wohl noch schockierter sein, wenn er von der Denkschrift nun außerdem noch erfährt, »daß die Gesellschaft in Arbeitsplatzbesitzer und Arbeitslose zerfällt« (S. 27). Es ist genau so, wie die Denkschrift es beschreibt. Da »wird nun der Beweis dafür eingefordert, daß die Soziale Marktwirtschaft sich von dem in der DDR wie in allen Staaten des ›real existierenden Sozialismus‹ gepflegten Schreckensbild des Kapitalismus erkennbar unterscheidet« (S. 31f.) - doch in der Wirklichkeit der ganz gewöhnlichen »Sozialen Marktwirtschaft« sieht alles noch weit düsterer aus, als der »Schwarze Kanal« zeigen konnte.

Die Denkschrift steckt in einem großen Dilemma. Sie will die ostdeutschen Christen für die Marktwirtschaft begeistern, ihnen wenigstens die Skrupel nehmen, sich am »Wettbewerb« zu beteiligen (S. 12). Aber sie findet keine Argumente - nur den absurd wirkenden Trost, daß für eine »Erholung der neuen Bundesländer« »gute Aussichten« bestünden (S. 138). Das kann man nur glauben, im Sinne Tertullians. Die Ostdeutschen aber wissen es inzwischen besser, denn was sie erleben, ist genau das, was die Denkschrift herunterzuspielen versucht, wenn sie suggeriert: »Das Stichwort ›Kapitalismus‹ suggeriert in polemischer Absicht eine wesensmäßige Gleichheit zwischen dem Frühkapitalismus des 19. Jahrhunderts und gegenwärtigen marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnungen« (S. 120). In Ostdeutschland aber herrscht nicht nur der Laisser-faire-Kapitalismus des 19., hier regiert in einem auch der Kolonialismus des 18. und der Imperialismus des 20. Jahrhunderts.

»Unter den Bedingungen der endlichen Welt und ihrer Widersprüche kann es freilich auch im wirtschaftlichen Bereich in den konkreten Einzelfragen keine Patentlösungen geben« (S. 117). Solche Beschwichtigungsformeln dürften kaum dazu geeignet sein, »Kräfte gegen die Resignation zu mobilisieren« (S. 139). Letzteres aber will die Denkschrift, zumal sie zwischen »der modernen Wirtschaftsweise und dem Christentum ... eine Art Verantwortungsgemeinschaft« sieht (S. 81) - wahrscheinlich in Analogie zur »Verantwortungsgemeinschaft« von Thron und Altar, die ja auch »geschichtlich« zusammenhängen (ebd.).

Herausgekommen ist dabei aber eher das Gegenteil, wobei die Resignation nun noch durch Frustration verstärkt wird, die sich vor allem auch dort einstellt, wo die Denkschrift allzu oberflächlich bleibt. Das gilt nicht nur für das Kapitel »Biblische Motive und Richtungsimpulse« (S. 84 ff.), in dem allerdings auch von der »Vergötzung der Wirtschaft« und also davon die Rede ist, daß die »Ökonomie« zur »Religion« wird, wenn sie »den Sinn des Lebens gewährleisten« soll (S. 111). Zitiert wird auch das Wort vom Mammonsdienst (Mt. 6, 24). Doch dann wird selbst das Neue Testament entschärft: Nicht vor der Macht des Mammon, nur vor der »Übermacht« (ebd.) müsse man warnen. (Die hier vorangegangene Exegese liegt auf eben jenem Niveau, auf dem sich dann auch der »Tanz um das Goldene Kalb« als »Warnung vor der Übermacht des Ökonomischen« [ebd.] interpretieren läßt.)

Oberflächlich ist vor allem auch, daß die Denkschrift die polit-taktische Formel von der Herstellung »einheitliche(r) Lebensverhältnisse in Deutschland« (S. 137) einfach nachspricht, anstatt deren eigentliche Problematik freizulegen. Diese besteht nicht darin, daß eine »Annäherung der Lebensverhältnisse ... nicht von heute auf morgen erfolgen« könne und daß »den Menschen im Osten Deutschlands auch ungeschminkt gesagt werden« müsse (ebd.). Wer von »einheitlichen Lebensverhältnissen« spricht, der kann doch nur davon ausgehen, daß es diese nicht einmal in der alten BRD gibt. Die Denkschrift hat das an anderer Stelle thematisiert. Warum nicht in diesem Zusammenhang? »Einheitliche Lebensverhältnisse« bedeuten für die Ostdeutschen, daß nun auch sie mit einer prinzipiellen Existenzunsicherheit zu leben haben, daß in Ostdeutschland Arbeitslosigkeit und Wohnungslosigkeit ebenso zum Alltag gehören wie in Westdeutschland, daß im Osten »neue Armut« (vgl. S. 28) und Gangstertum aller Art bestenfalls nicht noch dramatischer anwachsen als im Westen ...

»Einheitliche Lebensverhältnisse« bedeuten sodann freilich auch, daß einige, falls sie die von der Denkschrift so gerühmte »Effizienz« des »Wettbewerbs« (vgl. S. 14) überleben, »Erfolg« haben werden, während andere unter die Räder kommen, ohne die geringste Chance, den Rädern in die Speichen fallen zu können.

An diese »Annäherung der Lebensverhältnisse« hat die Denkschrift natürlich gar nicht gedacht, zumal für sie »wirtschaftlicher Konkurrenzkampf keineswegs ein sozialdarwinistischer Dschungel« ist, »in dem sich der Brutalste durchsetzt, sondern ein System von ›checks and balances‹, nämlich ein System sozialer Kontrolle, in dem Konflikt und Kooperation, Selbsterhaltungsstreben und Mitgefühl mit dem anderen, Rivalität und Sympathie vereinbar sind« (S. 38).

Für die Denkschrift heißt »Annäherung« ganz populistisch: auch die Ostdeutschen sollen in »Wohlstand« leben. Unterstellt, alle Westdeutschen lebten in »Wohlstand« und nach 7 mageren Jahren endlich auch der Osten - dann aber wäre alles noch viel schlimmer. Denn wenn es zutrifft, daß der Wohlstand in den »reichen Ländern« die Armut der Dritten Welt zur Folge und Voraussetzung hat - und genau darin bestehen ja die auch von der Denkschrift kritisierten »Verhältnisse struktureller Ungerechtigkeit« (S. 21) - dann bedeutet die Herstellung »einheitlicher Lebensverhältnisse«, eine weitere Vertiefung dieser Ungerechtigkeit bewußt in Kauf zu nehmen. Angesichts dieser Interdependenz klingt der beschwörende Schlußsatz der Denkschrift nur noch rhetorisch: »Sollte es in Deutschland nicht gelingen, das West-Ost-Gefälle auszugleichen und einheitliche Lebensverhältnisse herbeizuführen - wer wollte dann noch die Hoffnung darauf bewahren, daß in Europa und schließlich weltweit ein größeres Maß an Gerechtigkeit geschaffen werden kann?« (S. 139)

Und geradezu paradox klingt dieser Satz, wenn er vor dem Hintergrund der von der Denkschrift selber formulierten »Einsicht« konkretisiert wird, »daß die Erde, ökologisch betrachtet, eine Ausdehnung der Lebensverhältnisse in den Industrieländern auf die ganze Welt überhaupt nicht zu tragen vermag« (S. 25).

Im Fall »deutsche Marktwirtschaftseinheit« darf diese Einsicht offensichtlich noch einmal zurückgestellt werden - wieder einmal zu Lasten der Dritten Welt. Wer dabei Skrupel bekommt und aus dem kapitalen Teufelskreis der »Marktwirtschaft« auszubrechen versucht, der kann sich von der Denkschrift beruhigen lassen, denn: »Christen können dem Weg der Sozialen Marktwirtschaft grundsätzlich zustimmen, weil er zu der von ihrem Glauben gewiesenen Richtung des Tuns nicht in Widerspruch tritt, vielmehr Chancen eröffnet, den Impulsen der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit zu folgen« (S. 117).

Das hört man gern in Bonn und Frankfurt am Main, und Köln kann wieder aufatmen.
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NOCH EINE DENKSCHRIFT

Rehabilitierung der Jesuitenmoral

[in: Neues Deutschland, 2./3.4.1994, S.10]

Schritte auf dem Weg des Friedens - Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik. Ein Beitrag des Rates der Evangelischen Kirchen in Deutschland (Dezember 1993), EKD TEXTE 48

1852 setzte der Schweizer Jesuit Peter Roh einen Preis von 1000 Gulden aus. Seine Gegner sollten beweisen, daß der Satz »Der Zweck heiligt die Mittel« tatsächlich jesuitischer Literatur entstammt. Er konnte sein Geld behalten, auch wenn das wenig half, die bereits sprichwörtlich gewordene »Jesuitenmoral« zu rehabilitieren. Dafür war das System jesuitischer Moral zu lange schon firmiert mit den Insignien des Unmoralischen, bei dem die »Doppelmoral« zudem als doppelt amoralisch gelten mußte. Der deutsche Protestantismus war sich im 19. Jahrhundert darin immerhin noch einig: diese »Doppelmoral« durfte wenigstens als Theorie nicht hingenommen werden, auch wenn sie in der Praxis noch so glänzend funktionierte und auch längst gesellschaftsfähig war, weil die Politik des kapitalen Bürgertums ohne eine doppelte Moral ja auch gar nicht auskommt.

Letzteres klingt am Ausgang des 20. Jahrhunderts höchstens noch trivial und wird wohl kaum mit Ernst bestritten und mit Eifer dementiert. Im Gegenteil. Selbst innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist die Doppelmoral nachgerade zu einem moral-theologischen Axiom avanciert. In ihrer letzten Denkschrift mit dem Titel »Schritte auf dem Weg des Friedens. Orientierungspunkte für Friedensethik und Friedenspolitik« hat die »Kammer für Öffentliche Verantwortung« der EKD ein Dokument vorgelegt, an dem die Gegner des Peter Roh postum doch noch die 1000 Gulden verdienen könnten - wenn auch aus anderer Kasse. Was der Jesuit für seinen Orden meinte energisch bestreiten zu müssen, das hat nunmehr die »Kammer« höchst offiziell zu einem ethisch legitimierten Grundsatz erhoben: Der Zweck rechtfertigt die Mittel!

Es muß sehr gewichtige Gründe geben, wenn die Leitung einer evangelischen Kirche, statt die »Kammer« neu zu besetzen, sich einen solchen Grundsatz meint zu eigen machen zu können. Und die Denkschrift selbst hebt einen dieser Gründe denn auch besonders nachdrücklich hervor: Es geht um die politische Gleichschaltung der ostdeutschen Landeskirchen in der Frage von Krieg und Frieden.

Solange der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR seine Absage an Geist, Logik und Praxis der nuklearen Abschreckung im Gegenüber zu einer sozialistischen Gesellschaft formulierte und sich in diesem Kontext der Anerkennung jedweder militärischen Komponente der Friedenssicherung versagte und die Wehrdienstverweigerung dementsprechend zum »deutlicheren Zeichen« christlichen Friedensdienstes erklärte, war in der EKD selbstverständlich nicht von »tiefgreifende(n) Differenzen« (S. 12) mit den DDR-Kirchen die Rede. Diese werden bezeichnenderweise erst jetzt konstatiert, nachdem die DDR-Kirchen Teil eines NATO-Staates geworden sind, der von seinen Kirchen politische Gefolgschaft auch im Blick auf seine militärischen Optionen erwartet und nicht nur aufgrund des sog. »Militärseelsorgevertrag« durchaus auch erwarten kann.

Für die NATO war das einst eine geradezu ideale Konstellation: Die EKD verkündet in den »Heidelberger Thesen« von 1959 ihre in der sog. »Friedensdenkschrift« von 1981 bekräftigte prinzipielle Zustimmung zur nuklearen Abschreckungspolitik, und die Evangelischen Kirchen in der DDR verschreiben sich einem prinzipiellen (Atom-)Pazifismus. Seit der »Wende« aber macht diese Konstellation keinen politischen Sinn mehr, und deshalb muß der Pazifismus der ehemaligen DDR-Kirchen um jeden Preis abgewickelt werden. Denn nicht auszudenken, wenn dieser Pazifismus ernst genommen werden und zu einer erneuerten Friedensbewegung führen würde, die sich der Militarisierung der bundesdeutschen Politik widersetzt. Womöglich müßte dann die Bundeswehr weit eher als geplant »nach innen« ausrücken.

Wie aber wickelt man einen kirchenoffiziellen Pazifismus ab, den man zu DDR-Zeiten aus staatspolitischen Gründen zu goutieren wußte und der nun aus kirchenpolitischen Gründen in Gestalt eines »Konsens« aufgehoben werden muß? Eine eigentlich unlösbare Aufgabe, derer man sich höchstens mit einem Konsensverständnis ganz eigener Art annehmen kann. Wohl auch deshalb wurde in die »Kammer« Otto Graf Lambsdorf berufen, zugleich eine weitere Garantie dafür, daß die »Denkschrift« auf die Bonner Politik harmonisch abgestimmt werden konnte.

Berufen wurden in die »Kammer« auch einige Ostdeutsche, u.a. Propst Heino Falke, der einst als spiritus rector des »konziliaren Prozesses« galt und als solcher nunmehr wohl verhindern soll, daß die »Denkschrift« in Ostdeutschland als eine totale Absage an Geist und Logik des »konziliaren Prozesses« aufgenommen wird - was ihm ebenso wenig gelingen dürfte wie den ostdeutschen Martin Kramer und Walter Romberg, die sich auch in der »Christlichen Friedenskonferenz« (CFK) engagiert hatten.

Aber selbst wenn sämtliche ostdeutschen Synodalen ihrem einst konfessorisch proklamierten Friedensbekenntnis abschwören würden, die »Denkschrift« bliebe ein Dokument der Verleugnung biblischen Friedenszeugnisses, denn in ihr werden gerade nicht »Schritte auf dem Weg des Friedens« gegangen, sondern Pfade des Krieges beschritten.

So wirbt die »Denkschrift« nicht nur darum, die in der EKD einst ausgesprochene Billigung der nuklearen Abschreckung nachträglich als »situationsbedingt« (S. 13) zu akzeptieren, sie hält auch nach der »politische(n) Befreiung« der »östlichen Hemisphäre« (S.9) eine nukleare Option für geboten, denn auch »in der Zukunft stellt sich...das Problem, was zur Vorbeugung und zur Abwehr nuklearer Erpressung getan werden kann« (S. 14). Und als müßte ausgerechnet die Kirche ausgerechnet die Militärs eigens daran erinnern und dazu ermutigen - die »Denkschrift« wagt tatsächlich den auch einen nuklearen Erstschlag implizierenden Satz: »Für die Wirksamkeit der Abschreckung ist es gerade wesentlich, daß sie nicht zu spät kommt.« (S. 18)

Die Verfasser der »Denkschrift« scheuen nicht davor zurück, den »Einsatz militärischer Gewalt« als »ein prinzipiell nötiges Mittel der Politik« (S. 21) zu befürworten. Und dementsprechend lautet denn auch die den ostdeutschen Kirchen angebotene Konsensformel: »der Einsatz militärischer Gewalt, der im Prinzip verwerflich ist«, ist »gleichwohl ethisch und rechtlich als Ausnahmefall, als Grenzfall gerechtfertigt« (S. 18).

So kann nur reden, wer die Doppelmoral zum Prinzip erhoben hat und also auch bereit ist, sich peinlichst an die Vorgaben herrschender Politik zu halten - bis hin zur Übernahme der verlogensten Sprachregelungen. Und die »Denkschrift« präsentiert nicht nur den Slogan von der »veränderte(n) Verantwortung« (S. 30) Deutschlands, mit dem man in Bonn die erneuerten Weltmachtambitionen zu umschreiben pflegt. Sie weiß natürlich auch zu betonen, daß Deutschland selbstverständlich »keine grundsätzliche Sonderrolle« (S. 31) mehr spielen dürfe, was im Klartext des BRD-Verteidigungsministers bekanntlich heißt: auch das deutsche Kapital hat ein »vitales Sicherheitsinteresse« an der »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt«.

Das sehen die Verfasser der »Denkschrift« wohl ebenso, auch wenn sie verschämt anonym bleiben in ihrer völlig zutreffenden Feststellung: »Gewaltsame Auseinandersetzungen um knappe natürliche Ressourcen (wie z.B. Erdöl oder Wasser) sind in wachsendem Maße zu befürchten.« (S. 11) Aber die schon weit weniger anonyme Auskunft, daß die »weltweite Migration und Fluchtbewegung« zu den »mittelbaren und unmittelbaren Gefährdungen des politischen Friedens« (ebd.) gezählt werden müsse, macht deutlich genug, an wessen »politischen Frieden« die »Kammer« denkt. Bleibt nur zu hoffen, daß sie sich rein gar nichts dabei gedacht hat, als sie formulierte: »Dabei stellt es eine der wichtigsten Lehren der deutschen Geschichte dar, daß Alleingänge vermieden werden müssen und eine feste internationale Einbindung Priorität hat.« (S. 30) Daß die deutsche Bourgeoisie 1914 und 1939 in einem Alleingang eine internationale Friedens- und Rechtsordnung hätte herstellen wollen, kann damit, obwohl rein satzlogisch durchaus ableitbar, ja wohl kaum gemeint sein. Und so bliebe eigentlich nur, diese Mahnung der »Kammer« in dem Sinne zu verstehen, daß die herrschende deutsche Politik etwaige Neuauflagen von 1914 und 1939 nicht im Alleingang wagen sollte...

Für Kriegserklärungen gibt es immer hinreichende Gründe, und die deutsche Kriegstheologie wußte bisher jeden Kriegsgrund pseudotheologisch zu sanktionieren. Diese unselige Tradition wird in der »Denkschrift« faktisch aufgenommen und fortgesetzt, auch wenn ihre Verfasser das mit öffentlicher Empörung zurückweisen werden. Eine solche Empörung aber wäre nur glaubwürdig, wenn ihnen jene Naivität unterstellt werden dürfte, auf die die Kriegspropaganda baute, als sie den »Golfkrieg« mit den Prinzipien einer »internationalen Friedensordnung« meinte rechtfertigen zu können. Gerade am »Golfkrieg« aber wurde weltöffentlich demonstriert, daß die Prinzipien der »neuen internationalen Ordnung« auf dem »vitalen Interesse« an einem »ungehinderten Zugang zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt« beruhen. Man sprach von »Frieden« und meinte Erdöl, man redete über »Menschenrechte« und sicherte sich politische Einflußsphären, und man erprobte die neuesten Waffenentwicklungen, während man die Medien über »Völkerrecht« dozieren ließ.

Auch die »Denkschrift« hat sich diese Perversion nun zu eigen gemacht. Auch sie redet ausschließlich von der »Notwendigkeit eines erweiterten Friedensbegriffs«, von der »Einhaltung der Menschenrechte«, von der »Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen« und vom »Schutz der natürlichen Grundlagen des Lebens« (S. 14) und rechtfertigt - ausgerechnet unter Berufung auf die »Barmer Theologische Erklärung« und zudem noch als »notwendige...Konkretion« »einer christlichen Friedensethik« (S. 16) -, »militärische Mittel zur Wahrung des Friedens und zur Durchsetzung des Rechts bereitzuhalten und notfalls anzuwenden« (ebd.).

Damit dürften die kommenden »Golfkriege« hinlänglich legitimiert sein, und man kann sich schon heute ausrechnen, daß sie dann auch weltweit geführt werden müßten. Denn auch dieses hat die »Denkschrift« bereits bedacht: »Die Einsicht muß gefestigt und vertieft werden, daß es bei der nationalen Sicherheitspolitik nicht um den Staat als solchen geht, sondern um den demokratischen Rechts- und Sozialstaat.« (S. 35) Was wohl heißen soll, daß jeder andere Staat jederzeit mit der von der »Denkschrift« befürworteten »Ausübung internationaler Polizeigewalt« (S. 21) zu rechnen hat. Eine denkwürdige Perspektive angesichts einer bundesdeutschen Politik, die zielstrebig auf den Abbau des Sozial- und Rechtsstaates hinarbeitet.

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EIN WELTKATECHISMUS

Ein »Jahrhundert-Fiasko«

[in: Neues Deutschland, 3./4.7.1993, S.10]

Katechismus der Katholischen Kirche, München; Wien: Oldenbourg; Leipzig: Benno; Freiburg, Schweiz: Paulusverl.; Linz: Veritas, 1993

Was sich selbst im I. Vatikanum nicht durchsetzen ließ, das vor 123 Jahren mit seiner Dogmatisieru n g päpstlicher Unfehlbarkeit in Fragen der Lehre und der Sitte eine ebenso spektakuläre wie unchristliche Akte römischer Machtpolitik schuf, das haben Johannes Paul II. und die Nachfolger der »Heiligen Römischen Inquisition« zum Ende des 20. Jahrhunderts nun doch noch geschafft. Am 11. Oktober 1992 konnte der regierende Papst die Veröffentlichung eines Katechismus anordnen, den er 1986 in Auftrag gegeben hatte. Dieses Datum ist mit Vorsatz gewählt worden. Der 30. Jahrestag der Eröffnung des II. Vatikanischen Konzils könnte den Eindruck erwecken, der Katechismus stünde in Kontinuität zu den Reformbestrebungen des Papstes Johannes XXIII.. In Wahrheit aber soll er genau das Gegenteil davon besiegeln: die bereits in der zweiten Konzilsphase durch Paul VI. eingeleitete Restitution und also die Zurücknahme des ursprünglichen Reformgedankens durch seine konservative Interpretation. Und diese lautet: Die römisch-katholische Kirche muß sich in der Tat auf die veränderten Weltbedingungen einstellen; und sie tut das am wirkungsvollsten, indem sie diese noch konsequenter als bisher ignoriert.

Die ersten Reaktionen auf den nun auch in deutscher Fassung vorliegenden sog. »Weltkatechismus« sind denn auch durchgängig von Kritik bestimmt, wenn man von der amtsverpflichteten Apologetik einmal absehen will. Diese Kritik liegt aber auf ganz unterschiedlichen Ebenen.

KRITIK AUF ALLEN EBENEN

Der Marktjournalismus interessiert sich ohnehin nur für Themen, die sich gut verkaufen lassen. Und so muß er geradezu dankbar sein, daß der Katechismus eine Goldgrube für bad news ist. Denn es sind nun wirklich schlechte Nachrichten, wenn es von der »schlimmen Abirrung« der Homosexualität noch immer heißt, sie sei »in keinem Fall zu billigen« (§ 2357), und dazu aufgefordert wird, den Homosexuellen, die ihrerseits »zur Keuschheit gerufen« werden (§ 2359), mit »Mitleid« zu begegnen (§ 2358). Und selbst wenn man die im Katechismus bekräftigte kategorischen Ablehnung von Verhütungsmitteln (§§ 2370, 2372) höchstens noch mit einem Kopfschütteln quittiert und auch nicht bereit ist, über die pauschale Verurteilung des vorehelichen Verkehrs als »Unzucht« (§ 2353) ernsthaft zu diskutieren - die skandalöse Gleichstellung von Masturbation, Pornographie, Prostitution und Vergewaltigung (§§ 2352-2356) darf man, schon aus juristischen Gründen, nicht einfach mit Stillschweigen übergehen.

Die innerkatholische Opposition erhält mit dem »Weltkatechismus« eine authentische Bestätigung der Berechtigung ihrer theologischen und kirchenpolitischen Kritik am hierarchischen Amtsklerikalismus. Und sie wird damit zu rechnen haben, daß die mit dem Katechismus angestrebte Disziplinierung dissentierender Kräfte zu einer »weltweit« verstärkten Repression führt. Dafür spricht auch, daß in § 11 als »Adressaten des Katechismus« »hauptsächlich« und »in erster Linie« die für die Durchsetzung der römischen Dogmatik verantwortlichen Bischöfe genannt werden. Diesen wiederum schärft der Katechismus noch einmal mit Nachdruck die im II. Vatikanum festgeschriebene hierarchische Herrschaftsstruktur ein: »›Das Kollegium...der Bischöfe hat...nur Autorität, wenn es zusammen mit dem Römischen Bischof (sc. dem Papst)...als seinem Haupt verstanden wird.‹ Unter dieser Bedingung ist dieses Kollegium ›gleichfalls...Träger der höchsten und ganzen Vollmacht gegenüber der ganzen Kirche...Diese Gewalt kann freilich nur unter Zustimmung des Römischen Bischofs ausgeübt werden‹ (Lumen gentium 22).« (§ 883)

Selbst wenn der Katechismus nicht unter der Leitung von Joseph Ratzinger verfaßten worden wäre, hätte natürlich niemand ernsthaft mit einer theologischen Problematisierung des Zölibats oder gar mit einer Einladung zur Diskussion der »Priesterinnenweihe« rechnen können. Unter Ratzinger aber ist nicht einmal das Anliegen der Befreiungstheologie thematisiert worden und selbstredend auch nicht das der sog. feministischen Theologie. Und es gibt zudem auch keinen einzigen Anhaltspunkt dafür, daß die Verfasser die bibelwissenschaftliche Forschung der letzten hundert Jahre auch nur zur Kenntnis genommen haben könnten. Statt dessen aber bietet der Katechismus eine breite Erörterung der »Unfehlbarkeit« des sog. »Lehramtes« und der Notwendigkeit eines »religiösen Gehorsams des Willens und des Verstandes« selbst solchen »lehramtlichen« Äußerungen gegenüber, die nicht als »unfehlbare Definition« verstanden werden müssen (§ 892).

Innerhalb der protestantischen Kirchen dürfte sich nach der Veröffentlichung dieses Katechismus die »Zurück - nach - Rom -Bewegung« wohl kaum verstärken, auch wenn so manch Kulturprotestant beeindruckt sein wird von der Kompaktheit eines theologischen Systems, dessen biblischer Hintergrund zwar kaum noch zu erkennen ist, das dafür aber das ideologische Fundamente für jenen absolutistischen Kirchenstaat zu legen vermag, dem die Vertreter des Staatskirchentums von jeher mit hintergründigem Respekt begegneten. Aber auch ihnen gegenüber läßt der Katechismus keinen Zweifel aufkommen: die ökumenische Frage nach der Einheit der Kirche kann nur in gegenreformatorischer Erwartung einer »katholischen Einheit« beantwortet werden, denn die Christen »außerhalb der sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche« leben ohnehin nur »aus der Gnaden- und Wahrheitsfülle, die Christus der katholischen Kirche anvertraut hat« (§ 819).

Seitenverkehrt kann man ähnliche Sätze allerdings auch bei lutherischen Konfessionalisten des 19. Jahrhunderts nachlesen. Und bis heute dominiert auch in den kulturprotestantischen Staatskirchen jene Unbußfertigkeit, die im Katechismus nachgerade exemplarisch in dem »Verhältnis der Kirche zum jüdischen Volk« (§ 839) zum Ausdruck kommt. Der Katechismus bringt es tatsächlich fertig, über dieses »Verhältnis« ausschließlich im Blick »auf die Zukunft« zu reden, ohne auch nur mit einem einzigen Wort an jene kirchengeschichtliche Vergangenheit zu erinnern, die für die Synagoge zum Massengrab wurde. Und kaum noch zu überbieten ist der bigotte Zynismus, nun nicht etwa die Gewaltherrschaft dieser antijüdischen Kirchengeschichte, sondern die synagogale Verweigerung des Christusbekenntnisses als »Drama« zu bezeichnen (§ 840).

2865 PARAGRAPHEN

Biblisch-reformatorische Theologie wird sich wohlweislich davor hüten, den Eindruck zu erwecken, die im »Weltkatechismus« wiederholten Irrlehren des römisch-katholischen Lehramtes könnten die Irrwege der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen relativieren oder gar bagatellisieren. Eine Staatskirche ist dem Neuen Testament nicht weniger fern als ein Kirchenstaat. Und ein protestantischer Militärbischof hat dieselbe politische Legitimationsfunktion wie sein römisch-katholischer Kollege. Das aber entbindet nicht von der kontroverstheologischen Auseinandersetzung mit einem Katechismus, der sich formal auf die biblische Botschaft beruft, seinem Inhalt nach aber eine in ihrem Kern unbiblische Lehre verbreitet.

Es sind in erster Linie nicht einmal die gemeinhin als »typisch katholisch« bekannten Dogmen von dem Primat des Papstes, der Marien- und Heiligenverehrung, der Messe und den Sakramenten oder der hierarchischen Verfaßtheit der Kirche, an denen das Unbiblische dieses Katechismus zum Ausdruck kommt. Noch schwerer als solche häretischen »Sonderlehren« wiegt, daß das römisch-katholische Lehramt die biblische Botschaft durch diesen Katechismus endgültig in eine totalitäre »Gesetzesreligion« pervertiert hat, die den Christen in der römisch-katholischen Kirche in 2865 Paragraphen eine »unwiderrufliche Glaubenszustimmung« (§ 88), zumindest aber einen »religiösen Gehorsam des Willens und des Verstandes« (§ 892) abverlangt.

Einige dieser zweitausendachthundertfünfundsechzig Paragraphen hätten durchaus auch von der herrschenden Politik der kapitalbürgerlichen Gesellschaft formuliert worden sein können. Jedenfalls ist auch für den Katechismus das »Recht auf Privateigentum« eine Glaubensfrage. Zwar kommen seine Verfasser nicht an der Feststellung vorbei: »Das Recht auf das Privateigentum, das man sich selbst erarbeitet oder von anderen geerbt oder geschenkt bekommen hat, hebt die Tatsache nicht auf, daß die Erde ursprünglich der ganzen Menschheit übergeben worden ist.« (§ 2403) Doch die entscheidenden Sätze lauten: »Die Aneignung von Gütern ist berechtigt, um die Freiheit und Würde der Menschen zu sichern (sic!) und jedem die Möglichkeit zu verschaffen, für seine Grundbedürfnisse und die Bedürfnisse der ihm Anvertrauten aufzukommen. Sie soll ermöglichen, daß unter den Menschen eine natürliche Solidarität (sic!) besteht.« (§ 2402) »Der Besitz eines Gutes macht dessen Eigentümer zu einem Verwalter im Dienst der Vorsehung (sic!); er soll es nutzen und den daraus erwachsenden Ertrag mit anderen, in erster Linie mit seinen Angehörigen (sic!), teilen.« (§ 2404) Und auch § 2405 lautet tatsächlich: »Materielle oder immaterielle Produktionsgüter - wie z.B. Ländereien oder Fabriken, Fachwissen oder Kunstfertigkeiten - sollen von ihren Besitzern gut verwaltet werden, damit der Gewinn, den sie abwerfen, möglichst vielen zugute kommt. Die Eigentümer von Gebrauchs- und Konsumgütern sollen sie mit Maß verwenden und den besten Teil davon Gästen, Kranken und Armen vorbehalten.«

AUS DER PERSPEKTIVE DES ESTABLISHMENTS

Daß der Katechismus ausschließlich aus der Perspektive des Establishments geschrieben worden ist, belegen auch die anderen unmittelbar politischen Äußerungen - etwa im Blick auf das Recht zum Streik, der als »sittlich unannehmbar« denunziert wird, »wenn man mit ihm Ziele verfolgt, die nicht direkt mit den Arbeitsbedingungen zusammenhängen« (§ 2435), was heißen soll: die von politischen und gesellschaftliche Anliegen bestimmt sind. Hingegen wird der sog. Militärdienst nicht nur als annehmbar, sondern - im Unterschied zur Kriegsdienstverweigerung - als ausgesprochen lobenswert verteidigt, denn: »Diejenigen, die sich als Militärangehörige in den Dienst ihres Vaterlandes stellen, verteidigen die Sicherheit und Freiheit der Völker. Wenn sie ihre Aufgabe richtig erfüllen, tragen sie zum Gemeinwohl der Nationen und zur Erhaltung des Friedens bei.« (§ 2310) Und ganz generell gilt für den Staatsbürger, der die »Heimatliebe« und den »Einsatz für das Vaterland« als »Dankespflichten« (§ 2239) zu begreifen hat: »Die der Autorität Unterstellten sollen ihre Vorgesetzten als Diener Gottes ansehen, der diese zur Verwaltung seiner Gaben bestellt hat.« (§ 2238)

Selbst in Bayern dürften solche ordnungstheologischen Abmahnungen nicht mehr nur mit Dankbarkeit aufgenommen werden. Und im Blick auf das Ganze des katechetischen Gesetzeswerkes ließe sich durchaus ernsthaft die Frage stellen, ob die römische Kurie mit der Herausgabe ihres »Weltkatechismus« gar das Ziel einer konfessionellen Auslese verfolgt. Denn es ist kaum vorstellbar, daß der Katechismus in Lateinamerika zum Gemeindegut werden und in Europa den Auszug aus der römisch-katholischen Kirche aufhalten könnte. Aber womöglich hat man in Rom auch nur die Konditionen falsch vermessen., weil der Wille zur Macht vielleicht größer ist als die Einsicht in das Machbare, um von der befreienden Erkenntnis der biblischen Botschaft gar nicht erst zu reden. Es wäre jedenfalls nicht das erstemal, daß ein römisches »Jahrhundert-Dokument« mit einem Fiasko endet.

Als Papst Bonifatius VIII. in seiner Bulle »Unam sanctam« von 1302 den Gehorsam gegenüber dem Papst auch für die weltlichen Gewalten für heilsnotwendig erklärte, ließ ihn der französische König Philipp IV. einfach gefangennehmen und einsperren. Der Streitwert war, gemessen am Ausgang der Fehde, relativ gering. Bonifatius wollte die Besteuerung des Klerus und der Klöster verhindern. Doch eben dieses führte zum Sturz der päpstlichen Weltherrschaft. Und vielleicht meint Hans Küng ganz ähnliche Zusammenhänge, wenn er im Blick auf den »Weltkatechismus« von einem »Jahrhundert-Fiasko« spricht.
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DER GANZ GEWÖHNLICHE KLERIKALISMUS

Christliche Kirche oder politische Partei?

[in: Neues Deutschland, Beilage zur Frankfurter Buchmesse, 6. bis 11.10.1993, S. 9]

Reinhard Steinlein: Die gottlosen Jahre, Rowohlt Verlag, Berlin 1993

Nun hat Reinhard Steinlein sie endlich hinter sich: die »gottlosen Jahre« in der »gottlosen« DDR. Endlich ist er dort angekommen, wo er sich geistig schon immer beheimatet wußte. Und endlich hat nun auch er ein Buch über das »Reich des Bösen« abgeliefert, das, wie kaum ein zweiter »Nach-Wende«-Text, als »Aufarbeitungs«-Lektüre nachdrücklich empfohlen werden kann.

Anders gesagt: eigentlich wären Steinleins 156 Seiten gar nicht der Erwähnung wert, wenn sie nicht eben von einem ehemaligen Superintendenten und Konsistorialrat stammen würden, der sich als bekennender Antikommunist nicht nur in der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg einen Namen gemacht hatte. Man mag über R. Steinlein denken, wie man will: im Unterschied zu anderen hat er die DDR schon zu ihren Lebzeiten offen und ehrlich bekämpft. Er gehört zu jenen Kirchenleuten, die über jeden Verdacht erhaben sind, in opportunistischen »Wende«-Zwängen zu stecken. Jedenfalls ist seine (kirchen-)politische Biographie, aus »heutiger Sicht«, makellos - gekrönt durch den demonstrativen Austritt aus Kirchenleitung und Synode im Jahre 1978 als Zeichen des Protestes gegen eine - wie er (aus heutiger Sicht doch wohl irrtümlich) meint - kirchenoffiziell nicht nur geduldete, sondern geradezu mitgestaltete »Vereinnahmung...der Kirche in das herrschende politische System« (S. 122).

Steinleins Rückblick hat tatsächlich einen hohen Informationswert. Er beschreibt nämlich authentisch jenes in der DDR durchaus nicht marginale kirchliche Selbstverständnis, für das der Begriff der Kirche mit dem Inbegriff einer politischen Partei koinzidiert - einer konservativen natürlich . »Konservatives Luthertum« nennt Steinlein seinen parteipolitischen Ort, von dem aus der parteipolitische »Gegner« (S. 112) tapfer bekämpft wurde. Und das parteipolitische Credo konnte folglich auch gar nicht anders lauten als: »Die Fronten mußten klar sein.« (S. 109) Wer »aus der gemeinsamen Front ausbrach« (S. 62), der hatte die »Feinde« (S. 57) unterschätzt oder befand sich bereits - wie im Westen z.B. Karl Barth und Martin Niemöller - auf noch schlimmeren Irrwegen. Barth hatte zudem die Sünde begangen, »die deutsche, speziell die preußische Geschichte zunehmend unfreundlich beurteilt« zu haben! (S. 28f.) Und Niemöller hatte mit dem Darmstädter Bruderratswort von 1947 unverzeihlicherweise gar dazu beigetragen, »in breiten Kreisen der evangelischen Kirche eine freundlichere Einstellung zum Marxismus zu begünstigen« (S. 32)! Aber zum Glück gab es auch andere, denen es »einfach nicht möglich« war »anzunehmen, daß ein kommunistischer Staat ›unter der gnädigen Verheißung Christi‹ stehe« (S. 34). Und glücklicherweise gab es unter diesen anderen den »Antikommunisten« Otto Dibelius mit seinem »konservativen« Bekenntnis zu »Ehe, Familie, Heimat« und »Nation« (S. 25)...

Nun hat sich die Nation »mit der elementaren Gewalt eines Naturereignisses« wieder »vereinigt« (S. 139). Die »Bedrohung durch den gemeinsamen Gegner« (S. 12) gehört der Geschichte an, die Reinhard Steinlein lediglich eine einzige Revision abnötigt - bezeichnenderweise ausgerechnet in der Frage der Wehrdienstverweigerung. Zu DDR-Zeiten galt sie kirchenoffiziell als das »deutlichere Zeichen« christlichen Zeugnisses. Eine Aussage, die von einer Staatskirche im Kapitalismus natürlich nicht mitgetragen wird. Und so kommt denn Steinlein heute zu dem Schluß, daß sie auch schon gestern »übertrieben« gewesen sei (S. 138).

Steinleins Buch ist ein Dokument, das über die realexistierenden Kirchen in der DDR letztlich mehr preisgibt, als sich in Akten archivieren läßt. Es bietet nämlich eigentlich einen Berichtet über ein Verständnis von Kirche, in dem das biblische Evangelium nicht mehr vorkommt.

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KIRCHENGESCHICHTSSCHREIBUNG DER SIEGER

Wie ein böser Staat eine gute Kirche nötigte

[in: Neues Deutschland, 21.1.1994, S. 13]

Gerhard Besier: Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung, C. Bertelsmann Verlag München 1993

Als die westdeutschen Evaluatoren in den ostdeutschen Universitäten Einzug hielten und die neuen Kollegen abwickelten, um für alte Kollegen Leerstellen zu schaffen, da bedienten sie sich gern auch eines Wissenschaftsbegriffs, der »objektiven« Kriterien verpflichtet sein sollte: Wissenschaft habe »überparteilich« zu sein, »vorurteilsfrei« und natürlich auch »frei von jeglicher Ideologie«. Der seriöse deutsche Wissenschaftler urteile niemals »einseitig«, sondern immer »differenziert« und sehr wohl »ausgewogen«. »Schwarz-Weiß-Malerei« sei seine Sache ganz und gar nicht. So sprach man, ließ sich dicke Akten kommen und schrieb über die »sogenannte DDR« nun endlich dicke Bücher. Diese sind nicht selten hochinteressant, denn sie belegen, daß so manches westdeutsche Wissenschaftsverständnis höchst »dialektisch« verstanden werden will: Im Blick auf die DDR und ihre Geschichte darf man nämlich die Forderung nach »Differenziertheit« und »Ausgewogenheit« nicht nur nicht »übertreiben«, man darf sie nicht einmal im Ansatz geltend machen!

In seinem Buch Der SED-Staat und die Kirche hat Gerhard Besier dieses Sieger-Prinzip jetzt sogar öffentlich bekräftigt. Ganz vehement wendet sich der Heidelberger Kirchenhistoriker gegen eine Infragestellung der »undifferenzierten Bewertung der DDR als ‘SED-Diktatur’ und ‘Unrechtsregime’« (S. 9). Dem entspricht das politische Ziel seiner Publikation. Sie soll einen Beitrag leisten gegen »eine Umwertung des unmittelbaren Erschreckens über die SED-Diktatur, wie sie in den ersten drei Jahren nach ihrem Zusammenbruch die öffentliche Meinung beherrschte« (S. 10).

Offensichtlich gibt es in dieser Frage dringenden Handlungsbedarf, denn nachdem sich der demagogische Nebel verzogen hat und in Ostdeutschland das Erschrecken über die erbarmungslosen Strukturen des real existierenden Kapitalismus immer größer wird, beginnt der konkrete Systemvergleich für die Bonner Politik zu einer spürbaren Herausforderung zu werden. Diese aber läßt sich auf Dauer nur durch einen verordneten Antisozialismus beherrschen, der jeden Systemvergleich mit der Formel vom »Unrechtsregime« kategorisch unterbindet.

Auch Gerhard Besier hat sich auf dieses Niveau begeben. Und er weiß, worum es dabei eigentlich geht, denn: »Welche Geschichtsinterpretation sich als ‘historische Wahrheit’ durchsetzen wird, hat enorme Bedeutung für Parteien und Institutionen in der Gegenwart.« (ebd.) So stört ihn offensichtlich auch kaum, daß sein 1991 erschienener Band »Pfarrer, Christen und Katholiken« selbst im Westen auf vielstimmige Kritik gestoßen war und unter der Signatur »Geschichtsklitterung« abgelegt werden konnte. Es stört ihn wahrscheinlich nicht einmal, daß sein nunmehr vorgelegter Band sogar schon einen falschen Titel trägt, denn »die Kirche« ist nun wirklich nicht identisch mit der ausschließlich behandelten evangelischen Kirche.

Wenn aber auch die »historische Wahrheit« identisch ist mit dem, was sich an eigenen Vorurteilen und im Blick auf politische Ziele »durchsetzen« läßt, dann ist das differenzierte historische Urteil eher hinderlich, und selbst der historische Beweis wird zu einem überflüssigen Beiwerk. Es genügt dann eben völlig, von den »mit Händen zu greifenden Entsprechungen zwischen der NS- und der SED-Diktatur« (S. 12) zu sprechen und ein Geschichtsbild zu vermitteln, das so primitiv wie nötig ist.

Und Besiers Klischees sind außerordentlich einfach - aber einprägsam! Da gab es auf der einen Seite einen bösen Staat und auf der anderen eine von Hause aus gute Kirche, die sich leider auf den Weg der Anpassung drängen ließ, weil manche in ihr zu ängstlich waren und einige gar kommunistisch gesteuert. Dabei hätte alles (schon viel früher) anders kommen können, wenn es nicht das »Einfallstor« (S. 13) Karl Barth gegeben hätte und Leute wie Martin Niemöller und Heinrich Vogel und das »soge- nannte ›Darmstädter Wort‹« (S. 14)...und die »politischen Machenschaften« (S. 415) eines Hanfried Müller. Aber alles hätte noch schlimmer kommen können, wenn da nicht ein Otto Dibelius gewesen wäre und der Einfluß die Westkirchen der EKD, die ihrerseits natürlich nicht »angepaßt« waren und selbstverständlich auch nicht eingebunden in (partei)politische Interessen und geheimdienstliche Operationen.

Besier schreibt über die Jahre 1945 bis 1969. Auf die Fortsetzung braucht man nicht neugierig zu sein. Sie wird so ausfallen, wie der vorliegende Band, den man jedem zur Lektüre empfehlen kann, der sich dafür interessiert, wie man schwarz-weiß auf schwarz-rot-goldenem Hintergrund malt.
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EINE ALTERNATIVE VORLESUNG

Kirche im Kapitalismus

[Alternative Ringvorlesung auf Einladung Berliner Studenten, Humboldt-Universität, 11. Januar 1994, in: Weißenseer Blätter 1/1994, S. 30-41]

Das Thema meiner Vorlesung ist wenigstens doppeldeutig. Es soll sogar provokant klingen - wie ich kürzlich belehrt worden bin. Für letzteres läßt sich Verständnis aufbringen, wenn man sich auf die dicken Abrechnungsbücher einläßt, die nun in wissenschaftlicher Regelmäßigkeit erscheinen und mit mäßiger Wissenschaftlichkeit den Leichnam der einst so genannten »Kirche im Sozialismus« sezieren. Und wer die in Schwarz-Weiß vor schwarz-rot-goldenem Hintergrund diktierten Werke etwa eines Gerhard Besier gelesen hat, der weiß sehr wohl, wie schrecklich allein schon eine rhetorische Parallelisierung wirken muß. »Kirche im Sozialismus« ist schließlich weithin zu einem Unwort geworden, das sich fast nur noch als »Abweg« übersetzen läßt. Ein kirchengeschichtlicher Irrläufer, dessen Mitläufer im günstigsten Falle noch das Recht haben, sich als »Opfer« einer beispiellosen Verführung vorführen zu lassen - bei totalem Gunstentzug jedoch nichts weiter sind als eben: »Täter«.

Wer von »Kirche im Kapitalismus« spricht, der provoziere mit Vorsatz, zudem gleich zweifach. Zum einen versuche er zu suggerieren, daß es zwischen der Kirche im Kapitalismus und der Kirche im Sozialismus irgendwelche Analogien geben würde. Zum anderen beschädige er das Ansehen der »sozialen Marktwirtschaft« und des »demokratischen Rechtsstaates«, wenn er - offenkundig unbelehrbar - das garstige Wort vom »Kapitalismus« ins Spiel bringe. Die Kirchen in der BRD verstünden sich nicht als Kirchen im Kapitalismus, sondern als Kirche in einer Freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Und das sei eben etwas ganz anderes.

Ich stimme dieser Kritik teilweise sogar zu, denn auch ich bin der Überzeugung, daß die Kirche im Sozialismus in der Tat etwas ganz anderes gewesen ist als jene Kirche, die als Kirche in der FdGO eben doch nichts anderes ist als Kirche im Kapitalismus. Dafür waren die Unterschiede viel zu gravierend - vor allem in der entscheidenden Frage der partizipatorischen Anerkennung des jeweiligen gesellschaftlichen Systems. Während sich die evangelischen Kirchen in der BRD mit nur wenigen Einschränkungen als Kirchen für den Kapitalismus verstanden haben und auch weiterhin verstehen, hat es in der DDR nie eine kirchenoffizielle Formulierung gegeben, die auch nur in der Tendenz das Selbstverständnis einer »Kirche für den Sozialismus« zum Ausdruck gebracht hätte. Selbst in

der offiziellen Formel von der »Kirche im Sozialismus« steckte stets ein so hohes Maß an Distanz und Abstinenz, daß von einer Proexistenz zu keinem Zeitpunkt die Rede sein konnte. Helmut Gollwitzers imperatives Diktum »Christen müssen Sozialisten sein« wurde in West- und Ost-Berlin gleichermaßen unter Verdikt gestellt. Und dabei dachte Gollwitzer nun wirklich nicht an eine christliche SED-Mitgliedschaft. Aber allein schon das bloße Sozialismus-Wort hatte auch in den Kirchen der DDR nie einen guten Klang - völlig unabhängig von der realpolitischen Sozialismus-Praxis.

Der spezifisch kirchliche Antikommunismus wurde nicht erst 1945 oder 1949 geboren, auch nicht 1917. Er gehörte auch in den DDR-Kirchen zu jenem überkommenen und stets latent gebliebenen Erbe, das sich bereits im 19. Jh. zu einer geradezu dogmatischen Kirchendoktrin ausgewachsen hatte - vergleichbar dem kategorischen Veto gegen die 48. oder gegen die Französische Revolution. Man könnte auch weiter zurückgehen und verallgemeinernd sagen: gegenüber jeder geschichtlichen Entwicklung, die die gesellschaftlichen und politischen Konventionen durchbrach. Historisch geurteilt gehört es geradezu zum Wesen der konstantinischen Kirche, konservativ sein zu müssen. Und ich werde an anderer Stelle auf diesen Konservatismus noch näher eingehen. Jetzt will ich eigentlich nur sagen: Es ist einfach ungerecht, der evangelischen Kirche in der DDR postum nachzusagen, es hätte in ihr keinen Antikommunismus gegeben. Und gemessen an der staatskirchlichen Einbindung der evangelischen Kirchen in das politische und ökonomische System der BRD, ist der Vorwurf an die nunmehr ostdeutschen Kirchen, sich zu »staatsnah« bewegt zu haben, nachgerade lächerlich. Er bedarf nicht einmal der Widerlegung, auch wenn sich heutzutage nicht wenige Konsistoriale in dieser Frage gern und gegebenenfalls sogar feierlich exponieren. Ihre stereotype Beteuerung, schließlich nur mit dem Teufel paktiert zu haben, um einige Seelen zu retten, ist aber - aufs Ganze gesehen - überflüssig, zumal sich dahinter doch nur jenes schlechte Gewissen verschanzt, das die Lüge nur noch mit der Unwahrheit zu widerlegen vermag. Zudem ist es nutzlos, denn selbst die engagiertesten Staatsgegner von gestern werden heute höchstens als »2. Sieger der Geschichte« anerkannt - eine Terminologie, die ich nicht in bösartiger Verkrampfung erfunden, sondern dem inoffiziellen Sprachgebrauch offizieller Kirchenleitungsvertreter entnommen habe.

Aber all dessen ungeachtet - wahr bleibt, daß die Kirche im Sozialismus eine andere Kirche gewesen ist als die Kirche im Kapitalismus. Eine Kirche nämlich, die nach gut 1 1/2 Jahrtausend konstantinischer Gefangenschaft in die großartige Situation versetzt worden war, nicht mehr als staatspolitische Kultinstitution gebraucht und also mißbraucht zu werden. Die Kirchen in der DDR hatten tatsächlich die kirchengeschichtlich einzigartige Chance, ein genuin biblisches Kirchenverständnis wiedergewinnen zu können. Ob und inwieweit diese Chance angenommen wurde, ist eine andere Frage, denn was objektiv als Befreiung hätte wirksam werden können, das ist nicht selten als Unterdrückung verstanden worden - wie etwa, im Grundsätzlichen, der prinzipielle Ausschluß von der politischen Macht. Eine Kirche, die über 1 1/2 Jahrtausend die Funktion hatte, politische Macht nicht nur zu sanktionieren, sondern auch zu repräsentieren und, wenn nötig, auch repressiv zu akkumulieren, so sie nicht gerade selber damit befaßt war, den eigenen absolutistischen Machtanspruch mit allen, auch mit allen militärischen Mitteln durchzusetzen - eine solche Kirche mußte sich natürlich schwertun, den Totalverlust politischer Macht und Machteinbindung als Befreiung zu feiern. Die Klage über diesen Verlust ist in den evangelischen Kirchen der DDR denn auch nie vollkommen verstummt, auch wenn sie zeitweise spürbar leiser wurde. Die zwangsweise Machtenteignung als Strafe und Gericht anzunehmen, war aber weit verbreiteter, als sie ausdrücklich als ekklesiologischen Gewinn zu betrachten. Das bestätigte zu schlechterletzt auch der Jubel der ostdeutschen Kirchenleitungen über den Untergang der DDR und ihre Vereinnahmung durch die BRD. Ein Jubel, der in Dankgottesdienste ausartete, die auch von der aufrichtigen Freude darüber getragen waren, daß des Gerichts und der Strafe endlich ein Ende sein sollte.

Wahr aber bleibt, daß sich in den evangelischen Kirchen in der DDR - trotz und neben allem lauten und leisen Einspruch wider die unfreiwillige Machtlosigkeit - gerade in Voraussetzung eben dieser Machtlosigkeit ein theologisches und kirchliches Denken zu entwickeln begonnen hat, das den Charakter einer »2. Reformation« hätte annehmen können. Auch in dieser Hinsicht ist der 3. Oktober 1990 ein konterreformatorisches Datum.

»Kirche im Sozialismus« ist heute aber nicht mein Thema, obschon ich davon überzeugt bin, daß es Tragweiten hat, die auch für die Zukunft der Kirche von wachsender Bedeutung sein werden. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf die Kirche im Kapitalismus lenken, und damit komme ich zunächst zu der eingangs erwähnten Doppeldeutigkeit dieser offenbar anstößigen Formel. Sie ist deshalb doppeldeutig, weil sie hinlänglich Bekanntes und weithin Unbekanntes zugleich enthält. Unbekannt ist natürlich nicht der Kapitalismus. Den haben wir in den zurückliegenden drei Jahren bestens kennengelernt. Und er ist tatsächlich so, wie man es in den verstaubenden oder gar auf Müllkippen verscharrten ML-Büchern lesen konnte und immer nicht so recht glauben wollte - wenn man nicht wollte oder nicht konnte, weil da die scheinbar »falschen« Leute das nunmehr offenkundig Richtige geschrieben hatten. Vorausgesetzt, sie hatten Richtiges geschrieben und waren nicht der Illusion aufgesessen, der Kapitalismus sei eine »friedensfähige« und »reformfreudige« Ordnung, die durchaus in der Lage wäre, die systemeigene Unordnung nicht nur systematisch zu steuern, sondern im strategischen Interesse eines internationalisierten Produktionstyps sogar aufzuheben.

Wirklich kennengelernt hat man den Kapitalismus allerdings erst dann, wenn man zu erkennen gelernt hat, daß es zu den regulären Bedingungen seiner Existenz gehört, möglichst unerkannt zu bleiben. Nicht in dem Sinne, daß er als undurchschaubar gelten möchte. Gerade das möchte er nicht. Weil er nicht durchschaut werden möchte, gibt er sich höchst öffentlich und firmiert sich mit dem alles verdeckenden Begriff der Demokratie. Sein Versteck ist nicht das demonstrative Geheimnis, sondern die Demonstration seines eigentlichen Gegenteils. Hier beginnt oder endet der Beruf des Politikers. Und auch der Journalist hat kaum eine andere Wahl. Politiker lügen nicht aus Leidenschaft, sondern aus hinreichendem Grunde. Und in einer Gesellschaft, in der alles auf die Interessen des Kapitals abgestimmt werden muß, gibt es unendlich viele hinreichende Gründe. Denn der tagtäglich von neuem erzeugte Widerspruch zwischen Wesen und veröffentlichter Erscheinung gehört zu den Reproduktionsbedingungen einer entwickelten kapitalisierten Gesellschaft, die nicht als Diktatur in Erscheinung treten kann oder muß. Dabei werden wir nachdrücklich und durchaus nicht nur durch das öffentliche Diktat der sog. »Treuhand« belehrt, daß sich die gerade noch ortbare Grenzziehung gegenwärtig aufzulösen beginnt. Die gesamte Diskussion über den sog. »Standort Deutschland« ist in ihrer Substanz identisch mit der bei weitem nicht mehr spekulativen Frage nach der politischen Möglichkeit und Notwendigkeit einer offenen Totalisierung deutscher Kapitalinteressen.

Aber selbst dieser Kapitalismus wäre uns nicht unbekannt - ebensowenig wie jene Kirche, die sich mit ihm schon einmal, 1933, verbündet hatte. Weithin unbekannt aber dürfte jener Inbegriff von Kirche sein, dessen authentische Definition nicht der geschichtlich etablierten Institution »Kirche« zu entnehmen ist, sondern ausschließlich an dem biblischen Verständnis von Kirche gewonnen werden kann. Und die Doppeldeutigkeit des Themas »Kirche im Kapitalismus« liegt dort, wo die Voraussetzung für eine Identifizierung der real existierenden Kirche mit dem biblischen Kirchenverständnis verlorengegangen ist. Die real existierende Kirche ist nicht identisch mit der urchristlichen Bewegung. Und nicht nur ein Dostojewski hat die ungeheuerliche Befürchtung ausgesprochen, daß die sich in der Geschichte durchsetzende Kirche geradezu das Gegenteil der biblischen Gemeinde sein könnte. Selbst wer wider den historischen Augenschein daran festzuhalten versucht, daß sich sogar in dieser Kirchengeschichte biblische Gemeinschaft ereignet, wird nicht ohne weiteres davon ausgehen können, daß die real existierende Kirche lediglich ein verzerrtes Abbild des biblischen Urbildes ist. Denn aufs Ganze gesehen bietet die Kirchengeschichte spätestens seit dem 4. Jh. ein völlig anderes Bild, als es der urchristlichen Überlieferung zu entnehmen ist.

Von »Kirche im Kapitalismus« zu sprechen ist also insofern höchst zweideutig, als der Begriff »Kirche« als solcher noch nicht besagt, von welcher Kirche hier nun eigentlich die Rede ist. Von der weithin unbekannten Kirche biblischer Provenienz - oder von jener hinlänglich bekannten Kirche, die unter Konstantin dem Großen offiziell die Seiten wechselte und als blutig verfolgte Opposition das Angebot zur »großen Regierungskoalition« annahm, um dann ihrerseits zu einer blutig verfolgenden Kirche zu werden. Kirche ist nicht gleich Kirche. Und mir ist die Unterscheidung deshalb so wichtig, weil der biblische Kirchenbegriff, der aus der Geschichte der konstantinischen Kirche mehr und mehr herausgedrängt wurde, nicht fälschlicherweise verwechselt und mitsamt jener Kirche verachtet werden darf, die bereits für den deutschen Pietismus Inbegriff einer Anti-Kirche gewesen ist.

Ich will einiges sagen zu dieser biblischen Kirche, die als »Kirche im Kapitalismus« eine für den Kapitalismus höchst unbequeme, ja geradezu gefährliche Kirche wäre, wie ja denn auch die Bibel ein durchweg unbequemes und für den »alten Adam« ein sogar lebensgefährliches Buch ist und gerade keine besinnliche und erbauliche Lektüre. Dafür ist der die Bibel bestimmende Realismus viel zu tiefgreifend. Selbst dort, wo man formgeschichtlich von Mythen, Sagen und Legenden sprechen kann, geht es um sehr reale Fragen, die nicht nur Lebensfragen schlechthin berühren, sondern sich nachgerade zu Überlebensfragen verdichten. Gemessen an dem populären Religionsbegriff oder an der idealistischen Religionsphilosophie ist die Bibel kein »religiöses« Buch. Sie ist eher religionskritisch - nämlich im Blick auf die real existierende Religiosität Israels und der Gojim, der sog. Heidenvölker. Für den alttestamentlichen Propheten Jeremia sind die Götter der Heiden nur »Vogelscheuchen im Gurkenfeld« (Jer. 10,5), und ein Jesaja nennt Israels Tempelkult einen »Greul« für Jahwe (Jes. 1,10ff.). Der Propheten Anklage ist unglaublich scharf: Von den beamteten Gottesmännern zu Jerusalem »geht die Gottlosigkeit aus in das ganze Land« (Jes. 23,15). Die Kritik am herrschenden Kult und seinen Dienern ist radikal und scheinbar schonungslos. Selbst ein Abraham entgeht ihr nicht, über den die Genesis - das 1. Buch Mose - die kompromittierendsten Geschichten zu erzählen weiß. Der status quo der Geschichte Israels und der Völkerwelt wird im Alten wie im Neuen Testament in einer außergewöhnlichen Klarheit diagnostiziert. Und am Ende fällt die Diagnose verheerend aus. Schon die Jesaja-Apokalypse spricht aus, was der spätjüdischen und frühchristlichen Apokalyptik zur Gewißheit wird: »Die Erde welkt..., die Welt zerfällt, sie verwelkt, Himmel und Erde zerfallen. Die Erde ist entweiht durch ihre Bewohner...« (Jes. 24,4f.) Und das klingt nicht etwa larmoyant und depressiv, sondern eher aggressiv, denn die Apokalyptik bäumt sich auf gegen dieses Todesurteil und sehnt sich nach einem »neuen Äon«, der erst später, unter dem Einfluß der Gnosis und in der konstantinischen Staatskirchendogmatik, zu einer rein jenseitigen Welt verblaßt, um dann, viel später, als Vertröstungsreligion verständlicherweise auch bekämpft zu werden.

Doch vertrösten will das Wort von »dem neuen Himmel und der neuen Erde« aus Jes. 65,17 gerade nicht. Die eschatologische, die endzeitliche Perspektive einer geheilten Welt »am Ende der Tage« zielt nicht auf eine Entweltlichung der Geschichte, sondern auf Zukunftsfähigkeit.. Zukunft hat die Geschichte nur, wenn sie einem radikalen Umbruch unterworfen wird, der den »alten Äon« überwindet und die Welt eine neue Gestalt annehmen läßt. Die alttestamentlichen Propheten sind keine Moralisten. Israel soll sich nicht »bessern« und etwas weniger verwerflich leben. Es soll sich völlig abkehren von den nichtsnutzigen Göttern und umkehren auf den Wegen des Verderbens. Die Alternativen sind Tod oder Leben, Zukunft oder Untergang. Die alttestamentlichen Propheten reden geradezu pragmatisch von der Umkehr als der conditio sine qua non für Israels Weiterexistenz. Und sie reden dabei nicht nur partiellen Reformen das Wort, sondern zielen auf das Ganze, auf die Erneuerung des ganzen Menschen und ganz Israels. Und ihre Rede geht über Israel hinaus, denn die Zukunftsfähigkeit Israels hängt nicht nur von seiner inneren Verfaßtheit ab, sondern von der Verfassung der Welt insgesamt.

Die alttestamentliche Rede von der Erneuerung der Welt als Voraussetzung von Zukunftsfähigkeit ist verbunden mit der spektakulären Einsicht, daß es ohne Umkehr im Grundsätzlichen keine Zukunft geben wird. Ohne Umkehr und Abkehr wird das Ende zum Strafgericht. Die Konturen der notwenigen Abkehr und Umkehr geben sich in der prophetischen Intervention an fundamentalen Aspekten zu erkennen:

·        in dem Postulat einer neuen Gerechtigkeit, die das Recht der Rechtlosen zur Geltung bringt (Jes. 3,12ff.) und kein soziales Unrecht duldet (Am. 2,6ff.);

·        in der radikalen Verwerfung des Krieges und der Aufrichtung eines weltweiten Friedensreiches (Jes. 2,4);

·        in einer neuen Besinnung auf das Verhältnis zwischen Mensch und Natur (Jes. 11,8);

·        in der Überwindung des nationalen Staatsegoismus durch eine Universalisierung des Zukunftsanspruches für alle Völker (Jona);

·        in der totalen Revision des poly- und henotheistischen Götterverständnisses durch einen Monotheismus, in dessen Kosequenz nicht nur die Einheit der Welt (als Schöpfung des einen Gottes), sondern zugleich auch die Einheit der Völkergeschichte in den Blick kommt (Jes. 44,24ff.) und die Ablösung der Praxis konfrontativer Völkerkonkurrenz durch das Prinzip stellvertretender Proexistenz eingeklagt werden muß (Jes. 49,6).

Der alttestamentliche Ruf zur Umkehr findet seine neutestamentliche Entsprechung in der Metanoia. Für die apokalyptisch, also vom Endzeitgedanken geprägte urchristliche Gemeinde ist Metanoia beides: die Umkehr des »inneren« Menschen und die Umwandlung der »äußeren« Verhältnisse. Und beides steht im Zeichen jener Radikalität, die durch die Erwartung des apokalyptischen Dramas provoziert wird. Der erwartete Untergang dieser Welt ist für das Neue Testament aber kein fatalistisches Geschick, kein schicksalsmächtiges Ereignis, das so oder so eintreten würde. Der Tod ist vielmehr der Sünde Sold, wie Paulus Röm. 6,23 schreibt. Das Gericht erfolgt nach den Werken, wie es Matth. 16,27 heißt. Diese Welt ist zum Sterben verurteilt, weil »alle, Juden wie Griechen, unter der Herrschaft der Sünde stehen« (Röm. 3,9). Zukunft kann diese Welt unmöglich haben, jedenfalls nicht in ihrer jetzigen Gestalt. Das Ende »dieses Äons« wird im Neuen Testament fast noch mehr herbeigesehnt als befürchtet. Aber die Sehnsucht geht nicht in das Jenseits einer platonischen Ideenwelt. Die Offenbarung des Johannes nimmt ausdrücklich Bezug auf die alttestamentliche Prophetie, wenn nun auch sie von dem »neuen Himmel und der neuen Erde« spricht (Offb. 21,1). Was im Neuen Testament als »Reich Gottes« beschrieben wird, trägt in seiner eschatologischen Perspektive den erneuerten Begriff von Zukunft bei sich. Das Eschaton und also die Zukunft des »alten Äon« ist nicht die temporal offene Fortsetzung der bestehenden Verhältnisse, sondern ihre qualitative Erneuerung. Zukunft ist für das NT ein inhaltlicher Begriff und nicht eine bloße Zeitkategorie. Der Gedanke an eine reine Prolongation des Bestehenden ist eher schrecklich. Die Zukunft des »alten Äon« liegt in dem »neuen Äon«. Der »alte Äon« ist hoffnungslos verloren, weil er hoffnungslos verdorben ist. Ein Tal der Tränen, ein Ort der Gewalt, eine Stätte des Unrechts und der Bosheit, die zum Himmel schreien. »Mein Gott, entreiße mich der Hand des Bösen, der Faust des Ungerechten und des Tyrannen« - betet Ps. 71,44 der Geknechtete und Geplagte , der in der Johannes-Offenbarung hineingenommen wird in eben jenen »neuen Äon«, von dem es Offb. 7,14ff. heißt: die aus der »großen Drangsal kommen«, »sie werden keinen Hunger und keinen Durst mehr leiden, weder die Sonne noch irgendwelche Glut wird sie treffen«, sie werden zu den »Wassern der Lebensquellen« geführt werden, »und Gott wird jede Träne abwischen von ihren Augen«.

Was im NT Zukunft, Eschaton, heißt, bricht nicht für alle Menschen gleichermaßen an. Es gibt kein Erbrecht auf das Reich Gottes (Gal. 5,21), wiewohl es Verheißung gibt für alle, die da umkehren. Umkehr, Metanoia, aber ist der Auszug aus dem Reich des sog. »alten Adam« dieses vom Tode entstellten »alten Äons« in den Herrschaftsbereich des Jesus von Nazareth. Und der Exodus in der Nachfolge Jesu verkehrt die Maximen dieser Welt geradezu in ihr Gegenteil. »Die Ersten werden die Letzten sein und die Letzten die Ersten.« (Matth. 19,30) »Wer unter euch der Größte sein will, der soll euer Diener sein, und wer unter euch der Erste sein will, der soll der Diener aller sein.« (Mk. 10,43f.) »Wer das Leben gewinnen will, der wird es verlieren; wer es aber um meinetwillen verliert«, will heißen: wer in der Nachfolge Jesu nicht nach weltlichem Gewinn, sondern nach der Gerechtigkeit des Reiches Gottes trachtet, »der wird es gewinnen« (Matth. 10,39).Denn »eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr hindurch als ein Reicher in das Reich Gottes hinein« (Matth. 19,24). Ein ganz ungeheuerlicher Spruch aus der Predigt Jesu, denn wer in Israel in Reichtum lebt, gilt höchst offiziell als von Gott gesegnet. Ein ärgerlicher Tor also, wer so redet. Und der Apostel Paulus bestätigt das sogar. Jawohl, das Evangelium ist »den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit« (1.Kor. 1,18). Der Paradigmenwechsel ist total, auch bei Paulus. 1.Kor. 1,27f.: »Was die Welt für töricht hält, hat Gott auserwählt, um die Weisen zu beschämen; was die Welt für schwach hält, hat Gott auserwählt, um das Starke zu beschämen«.

Die urchristliche Gemeinde versteht sich in ihrer prinzipiellen Antithetik durchaus als eine Gegengesellschaft, als eine Gemeinschaft, die im Kampf liegt mit den Mächten dieser Welt - und von den Mächtigen dieser Welt denn auch prompt bekämpft wird. Denn der neutestamentliche Ruf zur radikalen Umkehr beansprucht nicht nur den Einzelnen, er zielt auf alle und auf alles und ist politisch in des Wortes ursprünglichster Bedeutung. Das lukanische Magnificat (Luk. 1,46ff.) läßt den auch der »Bekehrung der Herzen« die Umwandlung der Polis korrespondieren: »Gewaltige hat er vom Thron gestürzt und Niedrige erhöht. Hungrige hat er erfüllt mit Gütern und Reiche leer davongeschickt.« Die soziale Dialektik der urchristlichen Metanoia nimmt provozierende Formen an: Den einen wird gegeben, den anderen wird genommen werden, und eben so wird Gerechtigkeit zu einem Ereignis, das Zukunft hat.

Alle drei synoptischen Evangelien (Matth., Mk. und Lk.) haben denn auch das programmatische Prophetenwort aus Jes. 40,3-5 übernommen. Lukas zitiert ausführlich: Johannes der Täufer »kam in das Land am Jordan und predigte eine Taufe der Umkehr und der Vergebung der Sünden, wie im Buche der Reden des Propheten Jesaja geschrieben steht: ‚Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht seine Straße eben! Jedes Tal soll ausgefüllt und jeder Berg und Hügel abgetragen werden, und was krumm ist, soll gerade, und was rauh ist, zu ebenen Wegen werden, und alles Fleisch soll schauen Gottes Heil!« (Lk. 3,3ff) Radikaler und umfassender läßt sich Metanoia kaum beschreiben. Da sollen Hügel und sogar Berge abgetragen werden, um die Täler auszufüllen; da soll das Krumme begradigt, alles Unebene geebnet werden. Da soll das Gesicht der Erde erneuert werden - gegen allen Widerspruch, der daran festhält, daß das Unterschiedliche schließlich so ganz und gar natürlich sei. Aber gerade dieses eben so und nicht anders Gewachsene und Zusammengeschobene, dieses unerhört Faktische des Oben und Unten, des Krumm und Gerade, dieses Durchfurchte und Verfaltete - es soll nicht sein, wenn der Herr kommt. Es soll nicht länger zugelassen sein, daß »die da oben« leben und »die da unten« verhungern, daß Reichtum sich durch Armut nährt und Wohlstand sich am Elend mißt. Wenn der Herr kommt, dann darf dieses Oben und Unten nicht länger fortbestehen, nicht länger mehr die Kluft, die Existenzen tötet, die Sklaven schafft und Beute macht bei den Geringen. Dann darf nicht mehr Tal und Hügel sein, sondern nur noch ebene Straße.

Kein Wunder, daß Johannes der Täufer den König Herodes nicht überlebte. Ein Wunder aber, daß Jesus von Nazareth nicht schon als Baby umgebracht wurde. Um seiner habhaft zu werden, ließ Herodes in Bethlehem und Umgebung alle Kinder bis zu zwei Jahren ermorden - so überliefert es der Evangelist Matthäus (Matth. 2,16ff.) Auch wenn bei diesem Bericht unschwer die nachträgliche »Gemeindebildung« zu erkennen ist, so ist er doch insofern authentisch, als er Entscheidendes von den Existenzbedingungen der urchristlichen Gemeinde widerspiegelt: Wer zu ihr gehört, der lebt gefährlich und muß damit rechnen, wie Jesus ans Kreuz zu kommen oder wie Stephanus gesteinigt zu werden. Fast drei Jahrhunderte lang sind die christlichen Gemeinden denn auch blutig verfolgt worden, denn sie galten als »reichszersetzend«. Und das wollten sie auf ihre Weise ursprünglich auch sein. Das Wort vom »Salz der Erde« (Matth. 5,13) hat durchaus einen subversiven Charakter. Und Konspiration ließ sich allemal ausmachen, etwa durch die nichtöffentlichen Mahlfeiern, die anfangs ganz privat gehalten wurden und Anlaß gaben zu den abenteuerlichsten Gerüchten. Und provozierend vor allem die radikale Verweigerung, sich den Mächten und den Mächtigen dieser Welt zu unterwerfen. Christen verweigern den Kaiserkult, sie verweigern selbstverständlich auch den Kriegsdienst, sie verweigern sich der Vergötzung von Besitz und Eigentums, sie anerkennen nicht einmal die weltliche Gerichtsbarkeit. Ihr Reich ist nicht von dieser Welt, in der bestenfalls Auge um Auge und Zahn um Zahn vergolten wird. Sie überwinden das Böse durch das Gute, und gerade so sammeln sie »feurige Kohlen« auf das Haupt ihrer Feinde (Röm. 12,20f.). Sie durchbrechen die ehernen Traditionen und Grundsätze dieser Welt, um jener Alternative Geltung zu verschaffen, von der allein her der Welt Zukunft zukommt.

»Kirche im Kapitalismus« wäre vor dem Hintergrund dieses genuin christlichen Selbstverständnisses ein atemberaubendes Thema, für das sich wahrscheinlich auch jeder Verfassungsschutz interessieren würde. Und auch im bundesdeutschen wurden ja Dossiers über Pfarrer und Pastorinnen und kirchliche Mitarbeiter angelegt, die im vergangenen Jahr merkwürdigerweise z.T. sogar die Gelegenheit erhielten, ihre Akte einzusehen und deren Vernichtung zu beantragen. Aber im Unterschied zu Lateinamerika besteht für die Schützer des »christlichen Abendlandes« aufs Ganze gesehen kein Handlungsbedarf. Und das hat etwas zu tun mit der unglaublichen Wende, die die zunehmend verfaßter organisierte Christenheit zu Beginn des 4. Jh. erlebt hat - und in deren Folge sie am Ende des 4. Jh.s sogar offiziell verstaatlicht werden konnte.

Aber noch heute sind sich Theologen und Historiker kaum einig darüber, was alles und was entscheidend dazu geführt hat, daß die sich zu einer ökumenischen Bewegung ausbreitende Christenheit, die die Grenzen des römischen Reiches sogar überschritten hatte, ausgerechnet in die Kollaboration mit dem römischen Kolonialimperialismus treiben konnte. Noch in den ersten Jahren des 4. Jh. erleidet sie unter Diokletian und unter Galerius und Maximianus schrecklichste Verfolgungen - aber vielleicht auch schon nicht mehr nur aufgrund der Bergpredigt, sondern auch schon als populär gewordener Träger religiöser, mithin also politischer Macht. Und dann kommt es zu jenem Datum, das in der Kirchengeschichtsschreibung von den einen überschwenglich als Sieg der Kirche gefeiert wird und höchstens von den sog. Irregulären als ihre entscheidende Niederlage begriffen wurde. Am 28. Oktober 312 treten die Truppen Konstantins an der Milvischen Brücke bei Rom gegen den Usurpator Maxentius an - und siegen. Konstantins Soldaten tragen auf ihren Schildern das christliche Zeichen des Kreuzes. Ein perverser Vorgang, dessen konkrete Hintergründe nur noch schwer zu erhellen sind. Aber die Legende wurde geschichtsmächtig, die Konstantin als Visionär zeigt, dem im Traum das Kreuz erscheint und der da sagen hört: »In diesem Zeichen siege!«

Fortan werden Kriege im Namen Jesu Christi geführt. Und bereits 314 beschließt die Synode zu Arles, daß christliche Soldaten von der Kommunion auszuschließen sind, wenn sie in Friedenszeiten das Heer verlassen. Die Kirche bereitet die religiöse Machtübernahme vor. Und die Religion hat Macht im römischen Reich. Die heidnische Tempelpriesterschaft hat eine Aufgabe von staatspolitisch allererster Bedeutung, nämlich die Verantwortung für den »cultus publicus«. In einer von diversen Göttern beherrschten Welt ist die Religion keine Privatsache. Sie ist Staatsangelegenheit, denn die Götter müssen motiviert werden, innen- und außenpolitisch auf die je gewünschte Weise einzugreifen. In den Kriegszügen sollen sie die Götter der Feinde besiegen, und im eigenen Lande wird ihre Macht zur Garantie für jenen Herrschaftsanspruch, der sich noch im 19. Jh. von »Gottes Gnaden« versteht. Der Altar des Tempelpriesters steht in seiner staatspolitischen Bedeutsamkeit dem Thron des göttergleichen Herrschers kaum nach, denn von der Gunst der Götter hängt das Wohl und Wehe des Landes ab. Und so muß man sie im öffentlichen Interesse pflegen und verehren. Man muß ihnen opfern und mit der Schärfe des Schwertes dafür sorgen, daß sich niemand ihrer Verehrung widersetzt. Die Kaiser kommen und gehen, die Götter aber bleiben bestehen. Und so ist denn die Religion das eigentliche Band, das die Gesellschaft und den Staat zusammenhält. Der römische Tempelpriester und die Tempelpriesterin sind politische Gestalten, gewissermaßen Gestalten des »öffentlichen Dienstes«, wie natürlich auch ihre religionsgeschichtlichen Kolleginnen und Kollegen griechischer oder ägyptischer, aber auch israelitischer Provenienz. Und der islamische Mullah ist noch heute eine politische Institution. Wer im Imperium Romanum einem anerkannten Staatsgott dienen durfte, der hatte einen überaus gewichtigen Posten

Die römische Tempelpriesterschaft aber sollte im Verlauf des 4. Jahrhunderts fast alle Posten verlieren. Sie wurde »abgewickelt« und an den sozialen und gesellschaftlichen Rand gedrängt, sofern sie überhaupt überlebte. Ihr Amt übernahm der Klerus der christlichen Kirche, deren universaler Monotheismus den adäquaten Überbau für den Bau eines monolithischen Universalreiches bot. Und nachdem das Christentum 380 auch offiziell zur Staatsreligion erklärt worden war, wurden auf den Grundmauern gestürmter Tempel christliche Kirchen erbaut, sinnfälligerweise zumeist auch mit demselben Gestein.

1980 jährte sich das abendländische Staatskirchentum zum 1600. Male. Es hat Variationen durchlebt, bis dahin, daß in der Weltherrschaft des Papsttums Thron und Altar koinzidierten, daß Bischöfe als Landesherren residierten und Fürsten und Könige als Oberpriester fungierten. Für den Feudalismus ist die römische Kirche die umfassendste totalitäre Integrationskraft. Und auch die Reformation hat das Staatskirchentum nicht etwa aufgehoben. Im Gegenteil. Sie hat eher dafür gesorgt, daß die im 10. Jh. anhebende Unterordnung des Staates unter die Kirche wieder abgelöst wurde von der ursprünglichen Zuordnung der Kirche auf den Staat. Der unselige Summepiskopat, der den Landesherren auch zum Herrn seiner Landeskirche machte, ist eine Folge der Reformation. Und dieses sog. »landesherrliche Kirchenregiment« endete erst 1918, nachdem Wilhelm II. das Weite gesucht hatte. Und selbst die Weimarer Republik, die den Untergang der kaiserlichen Staatskirche staatsrechtlich ratifiziert hatte, räumte sich in einer sog. »politischen Klausel« ein Vetorecht ein, das ihr gestattete, im Blick auf die Wahl von Kirchenführern, wie es hieß, »Bedenken politischer Art« geltend machen zu können. Der Reichskanzler Adolf Hitler vereinfachte dann wieder die politische Einbindung der evangelischen Kirche, indem er einen Nazipfarrer einfach per Dekret zum »Reichsbischof« ernannte und darin auch noch von evangelischen Landesbischöfen unterstützt wurde.

Die Kirche im Kapitalismus beginnt natürlich nicht erst mit der Weimarer Republik. Sie beginnt mit dem Kapitalismus, der sich in den frühbürgerlichen Revolutionen Bahn zu brechen beginnt und dabei von der Reformation begleitet wird. In der mit der frühbürgerlichen Reformation anhebenden Emanzipation von der römisch-katholischen Papst-Kirche wird aber faktisch das vor-feudalistische Verhältnis von Staat und Kirche restituiert und durch den Summepiskopat sogar überboten. An die Stelle des Kirchenstaates tritt nun wieder die Staatskirche. Und es ist nach wie vor Aufgabe dieser Kirche, Staat und Gesellschaft geistlich zu begleiten, religiös zu überhöhen und ideologisch zu untersetzen. Und wohlgemerkt: Was heute von der kritischen Kirchengeschichtsschreibung gegen diese Staatskirche vorgebracht wird, das gehört weithin zu ihrem Selbstverständnis. Und selbstverständlich gehört dazu auch die Sanktionierung des Krieges. Nicht zufällig ist das Kreuz seit Konstantin ein militärisches Zeichen geblieben, mit dem Kreuzritter ihre Gesinnung ebenso ausweisen wie Ritterkreuz-Träger. Der 1. Weltkrieg stand noch völlig ungebrochen im Zeichen des Kreuzes, daß von den Feldgeistlichen aller Seiten in die Schlacht geführt wurde. Eine doppelt absurde Situation, denn unter Konstantins Oberbefehl ging man immerhin noch davon aus, daß unterschiedliche Götter miteinander kämpfen. Jetzt aber wird der e i n e Gott - gleichsam als Massenvernichtungsmittel - gegen die Heere des Feindes eingesetzt. Ein Irrtum zu glauben, erst das Hakenkreuz sei die eigentliche Perversion des Kreuzes auf Golgatha. Wenn es nicht so arg mißverständlich wäre, müßte man sogar sagen: das Hakenkreuz ist wenigstens schon äußerlich entstellt, und die unter ihm versammelten sogenannten »Deutschen Christen« hatten schon vom Namen her deutlich gemacht, daß sie keine Christen, sondern eben »Deutsche Christen« sein wollten. Und das ist das antichristliche Gegenteil.

Kirche im Kapitalismus ist kein Thema für erbauliche Stunden. Karl Barth, der große Schweizer Theologe, eine der eindrücklichsten Gestalten der Theologie und Kirchengeschichte überhaupt, Karl Barth hatte in seinem 1. Römerbief-Kommentar von 1919 sogar der Frage Raum geben müssen, ob diese Kirche nicht womöglich alle Verheißung verloren habe. Und Barth redete hier nicht als Externer, sondern als Pfarrer einer ganz traditionellen Ortsgemeinde. Und seine Frage war deshalb so eindringlich, weil er nicht nur die Kirche, sondern eben auch den Kapitalismus kannte, mit dem die offizielle Kirche verbündet blieb - auch nach 1918. Selbst die in der Weimarer Verfassung fixierte Trennung von Staat und Kirche bedeutete keineswegs eine Überwindung des Konstantinismus, wiewohl die evangelische Kirche gegenüber der Weimarer Republik spürbar auf Distanz ging. Für Sozialdemokraten betete man damals noch nicht. Dafür saß die Kaisertreue viel zu tief. Und der verlorene Krieg hatte sie eher noch mehr vertieft als in Frage gestellt. Als im Juni 1919 der Versailler Vertrag unterzeichnet wurde, forderten die preußischen Generalsuperintendenten die Gemeinden auf, »im Einklang mit Millionen deutscher Männer und Frauen...den Kaiser und die Kaiserin, nebst unseren deutschen Führern und Helden, mit dem Wall unserer Fürbitte zu umgeben«. Erst als Ebert 1925 als Reichspräsident von einem dezidierten Monarchianer und kaiserlichen Feldmarschall abgelöst wurde, begann sich ein Brückenschlag von der kaiserlichen Bürgergesellschaft zur bürgerlich-parlamentarischen Demokratie abzuzeichnen, befördert auch durch die Vergewisserung, daß die eigentlichen Herrschaftsverhältnisse identisch geblieben waren und die Privilegien der als Körperschaft des öffentlichen Rechts geltenden Kirche größtenteils gesichert blieben. Die Kirchensteuer wurde durch die Reichsverfassung garantierte, und die Staatszuschüsse wurden - entgegen dem Verfassungsauftrag - niemals eingestellt. Und auch der Religionsunterricht in der Schule konnte schließlich beibehalten werden. Verinnerlicht aber hatte diese deutsch-nationale Kirche den ihr von Hause aus völlig fremden und in jeder Beziehung suspekten Demokratismus nicht. Hitler konnte sich auf diese Kirche weitgehend ebenso verlassen wie der Kaiser, in dessen Reich jeder Pfarrer vor seinem Amtsantritt seinem Landesherrn einen Gehorsamseid leistete. Der sog. »Führereid« des sog. »Dritten Reiches« war keine traditionslose Erfindung. Und die Hitler-Kirche unterscheidet sich von der Kaiser-Kirche - aufs Ganze gesehen - vielleicht doch nur dadurch, daß es mit der »Bekennenden Kirche« zu einer hoffnungsvollen Kirchenspaltung kam, wiewohl auch die »Bekennende Kirche« insgesamt durchaus deutsch-national blieb. Nur wenige beteten in ihr - wie Dietrich Bonhoeffer - für die Niederlage Hitlerdeutschlands.

Und überaus bezeichnend: der Reorganisation des deutschen Kapitalismus nach 1945 korrespondiert die Restauration innerhalb der evangelischen Kirche, in der es zu einer allmählichen Ausschaltung jener bruderschaftlichen Kräfte der »Bekennenden Kirche« kam, für die der 8. Mai auch die Chance zu einer grundsätzlichen Neuorientierung kirchlichen Selbstverständnisses bedeutete. Ich habe bewußt wenig zitiert, aber an dieser Stelle will ich einen in dieser Frage durchweg glaubwürdigen Zeugen anführen, nämlich den für seinen aufrichtigen Antikommunismus bekannt gewordenen Superintendenten und Konsistorialrat Reinhard Steinlein. In seinem 1993 im Rowohlt-Berlin-Verlag erschienenen DDR-Rückblick mit dem bezeichnenden Titel »Die gottlosen Jahre« erinnert er sich, ich zitiere, Seite 28: »Als ich 1946 aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte und mich bei meinem Berliner Konsistorium zurückmeldete, begrüßte mich Oberkonsistorialrat Kegel mit den Worten: »Hier herrscht nur noch Karl Barth. Alle Andersdenkenden gelten als Ketzer. Aber das dürfen Sie wissen: Die Füße derer, die ihn hinaustragen, stehen schon vor der Tür.’« Um die Restaurationspolitik in der evangelischen Kirche der nachmaligen BRD belegen zu können, muß man sich natürlich nicht erst auf Steinlein berufen. Ich führe ihn aber deshalb an, weil bei ihm zugleich jene gesamtpolitische Wende zum Tragen kommt, nach der »Restauration« heute wieder ein Begriff geworden ist, der auf der Haben-Seite der deutschen Kirchengeschichte verhandelt wird.

Dem entspricht, daß die nun auch in den ostdeutschen Landeskirchen sich durchsetzende Restauration in den ostdeutschen Konsistorien immer seltener als ein beispielloser Rückfall verstanden, sondern zunehmend als Gewinn ausgegeben wird. Zu diesem »Gewinn« gehört neben der staatlich eingetriebenen Kirchensteuer und dem in Berlin z.B. zu 90% vom Staat finanzierten Religionsunterricht in der Schule auch die staatlich finanzierte und observierte Militärseelsorge, die zwar selbst in Synoden noch immer umstritten wird. Doch umstritten waren auch Kirchensteuer und Religionsunterricht, ohne daß das ihre Einführung verhindert hätte. Ich nennen diese Trias auch deshalb, weil in historischer Perspektive an ihr deutlich wird, daß die Kirche im Kapitalismus heute in einer Tradition steht, die bis zurück ins Kaiserreich führt. Die mit der Novemberrevolution anhebende prinzipielle Infragestellung der staatlich veranlagten Kirchensteuer ist in der Weimarer Republik nicht zum Tragen gekommen, die in ihrer entsprechenden Gesetzgebung an das in Preußen seit 1905 gültige Gesetz über die Ortskirchensteuer anknüpfte. Auch der anfängliche Widerstand gegen den Religionsunterricht in der Schule konnte sich nicht durchsetzen. Verlustig ging die Kirche nur der sog. geistlichen Schulaufsicht, nicht aber ihrer prinzipiellen Präsenz. Und auch ihre militärische Integration blieb geregelt, wenn auch länderweise unterschiedlich. Preußen hatte natürlich seine hauptamtlichen Wehrkreispfarrer.

Und nun wird auch für Ostberlin und Brandenburg wieder ein Militärbischof zuständig werden - entsprechend jenem sog. Militärseelsorge-Vertrag, der am 22. Februar 1957 zwischen der Bundesrepublik und der Evangelischen Kirche in Deutschland abgeschlossen wurde und sich am Artikel 27 des am 20. Juli 1933 abgeschlossenen Reichskonkordats orientieren konnte. Dabei kann der Staat nicht nur gegen den von der Kirche zu ernennenden Militärbischof Bedenken geltend machen, dessen umfangreiches Kirchenamt ist dem Bundesministerium für Verteidigung sogar »unmittelbar nachgeordnet«. Dem Verteidigungsministerium untersteht auch der Militärgeneraldekan als Stellvertreters des Bischofs, »soweit er«, wie es heißt, »mit der Militärseelsorge zusammenhängende staatliche Verwaltungsaufgaben wahrnimmt«. Und die Militärgeistlichen sind denn auch keine Kirchen-, sondern vom Steuerzahler finanzierte Bundesbeamte auf Zeit. Das berühmt-berüchtigte Foto-Dokument von der Unterzeichnung dieses Staatsvertrages sagt vielleicht mehr als mancher Kommentar. Da sitzen und stehen vereint beieinander: die vier Unterzeichner Kanzler Adenauer, Verteidigungsminister Strauß, der Vorsitzende des Rates der EKiD, Bischof Dibelius, und sein Kirchenkanzleichef Brunotte - und im Hintergrund u.a. der Generalinspekteur Heusinger, der nunmehrige Militärbischof Kunz, Herr Kisinger, Herr Schröder und der Staatssekretär und Chef des Bundeskanzleramtes Globke, der Kommentator der faschistischen Rassengesetzgebung, die auch in der deutschen Reichskirche mit Überzeugung durchgesetzt worden war.

Es ist falsch zu behaupten, der sog. Militärseelsorgevertrag gehöre zu den dunkelsten Kapiteln der evangelischen Nachkriegskirche in Westdeutschland. Denn zum einen wurde er auf einer zu dieser Zeit noch gesamtdeutschen EKD-Synode auch mit den Stimmen der meisten ostdeutschen Synodalen angenommen. Und zum anderen ist er nicht nur ein Kapitel neben anderen, sondern prägnantester Ausdruck eines von Staat und Kirche gleichermaßen geteilten und beförderten Staatskirchenverständnisses, das in nahezu ungebrochener Kontinuität an die unselige Tradition konstantinisch-theodosianischer Reichskirchlichkeit anschließt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil es bei der sog. Militärseelsorge nur vordergründig um Seelsorge und schon gar nicht um Seelsorge in des Wortes christlicher Bedeutung geht, sondern letztlich darum, die Militärpolitik und das remilitarisierte Selbstverständnis des Staates religiös zu legitimieren. Gegen christliche Seelsorge an Soldaten ist nichts einzuwenden, zumal sie unter den gegebenen Verhältnissen ohnehin nur zur Kriegsdienstverweigerung führen könnte. Die offizielle Militärseelsorge hat aber gerade die gegenteilige Aufgabe, nämlich die Truppe psychologisch, moralisch und ideologisch kampftüchtig zu machen - wie einst Konstantins Soldaten, die sich vor dem Heer des Maxentius womöglich gar beträchtlich fürchteten und mit dem Kreuz vielleicht ein Zeichen auf das Schild bekamen, das Hoffnung und auch Zuversicht bezeugen sollte. Es ist tatsächlich wahr, und man konnte es im Fernsehen mit eigenen Augen sehen: Diese Militärseelsorge versteht sich sogar dazu, den Einsatz der Bundeswehr in Somalia zu sanktionieren, vor dem Hintergrund der Erklärung des Verteidigungsministers Rühe, daß die »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt« zum »vitalen Sicherheitsinteresse« Deutschlands gehöre. Nachzulesen im ND vom 28.12.1993, S.10. Und dann ein bühnenreif aufbereitetes Szenarium: ein Pfarrer in militärischem Ornat tauft in Belet Uen vor den Augen der Weltöffentlichkeit einen ostdeutschen Soldaten auf den Namen des dreieinigen Gottes. Und es fehlte eigentlich nur noch das römische Kreuz der Reichsfahne.

Kirche im Kapitalismus kann ein sehr deprimierendes Thema sein, wenn man fixiert bleibt auf die sog. »offizielle Kirche«. Aber ich habe nicht vor, eine theologische Kriminalgeschichte des Christentums vorzutragen, auch wenn das womöglich in Ihrem Erwartungshorizont liegen sollte. Kirche im Kapitalismus ist für mich vielmehr insofern ein aufregendes Thema, als solche Demonstrationen wie diese Taufe in Belet Uen ungewollt zugleich ja noch etwas ganz anderes demonstrieren: nämlich dieses, daß solche medienberechneten Auftritte offensichtlich notwendig geworden sind, um einen Beleg dafür erbringen zu können, daß die Kirche auch in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft einen unverzichtbaren Beitrag zu leisten vermag, der es ihr erlaubt, eine politische und gesellschaftliche Perspektive reklamieren zu können. Aber eben diese Perspektive ist längst schon nicht mehr selbstverständlich, auch wenn es vordergründig noch so aussehen mag, als würde niemand an der gesellschaftlichen und politischen Ortsbestimmung der Kirche ernsthaft zweifeln. Und es besteht auch kein Zweifel darüber, daß größte Anstrengungen unternommen werden, den konstantinischen status quo zu halten. Ich erinnere nur an bestimmte kirchlichen Denkschriften, die von der sog. »Kammer für Öffentliche Verantwortung« verfaßt worden sind - unter dem Vorsitzt des Münchener CSU-Theologen Trutz Rendtorff, der vom Berliner Senator Erhard auch zum Oberevaluator für die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität bestellt wurde.

Mitten hinein in den eindrücklichen Widerstand der in der BRD gerade auch von sehr vielen Kirchengemeinden getragenen Friedensbewegung gegen das NATO-Langzeitprogramm und den sog. NATO-Doppelbeschluß bekräftigte die Kammer in der 1981 erschienenen Denkschrift »Frieden wahren, fördern und erneuern« die schon 1959 verkündete Zustimmung zur atomaren Abschreckung als einer, wie es 1959 in den »Heidelberger Thesen« wörtlich hieß, »heute noch möglichen christlichen Handlungsweise« und versuchte das sich immer lauter artikulierende kategorische »Nein« gegen jede weitere Aufrüstung - unter Beifall des bundesdeutschen Verteidigungsministers - zu problematisieren und also zu eliminieren.

Staatliche Anerkennung fand auch die 1985 veröffentlichte Denkschrift »Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie - Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe«. Das war auch gar nicht anders zu erwarten, denn der 22köpfigen Kammer gehörten schließlich 8 Bundes- und Staatsminister, Staatssekretäre und Staatsbeauftragte an, zudem ein Universitätspräsident, zwei Vizepräsidenten, auch der damalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes Roman Herzog und natürlich der Militärbischof a.D. Hermann Kunst und sein Kollege Prälat Heinz Georg Binder. Allein schon die Zusammensetzung dieser Kammer ersetz ein Referat über Kirche im Kapitalismus. Und entsprechend waren denn auch Text und Tenor dieses Grundsatzpapiers, in dem es programmatisch heißt: »Die hier vorgelegte Denkschrift will die Zustimmung evangelischer Christen zur demokratischen Staatsform des Grundgesetzes begründen und ihre Konsequenzen für das Leben als Bürger in unserem Staat erörtern.« (S. 11)

1991 begründete die Kammer dann eine weitere Zustimmung, nämlich die zur »Sozialen Marktwirtschaft« - unter dem Titel »Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft«. Auch in ihr geht es darum, die immer kritischer werdenden Stimmen im Sinne der kapitalbürgerlichen Gesellschaft zu domestizieren, wobei diese Denkschrift schon nicht mehr daran vorbeikommt, die abgründigen Probleme und Widersprüche des Kapitalismus zu benennen. Aber eben so, daß die eigentliche Botschaft nicht überhört werden kann, die da lautet: »Christen können dem Weg der Sozialen Marktwirtschaft grundsätzlich zustimmen, weil er zu der von ihrem Glauben gewiesenen Richtung des Tuns nicht in Widerspruch tritt, vielmehr Chancen eröffnet, den Impulsen der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit zu folgen.« (S. 117) Und um der Kapitalismuskritik den eigentlichen Stachel zu nehmen, vielleicht auch nur, um sich selber ein gutes Gewissen zu machen, fügt die Denkschrift hinzu: »Das Stichwort ‚Kapitalismus’ suggeriert in polemischer Absicht eine wesensmäßige Gleichheit zwischen dem Frühkapitalismus des 19. Jahrhunderts und gegenwärtigen marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnungen.« (S. 120) In Bischofferode ist dieser Satz auf helles Gelächter gestoßen.

Solchen Denkschriften ergeht es heutzutage aber kaum anders als dem jüngst veröffentlichten Katechismus der römisch-katholischen Kirche. Wenn überhaupt, dann werden sie höchstens noch von bestimmten Insidern zur Kenntnis genommen. D.h.: das Maß ihrer gesellschaftlichen Suffizienz ist eigentlich nicht mehr zu berechnen. In einer medial überfluteten Gesellschaft, in der die Massenmedien monopolisiert und in der Lage sind, flächendeckend Meinung zu erzeugen, wird die konstantinische Kirche zunehmend zu einer völlig marginalen Größe und damit außerstande, ihrem über Jahrhunderte gewachsenen Selbstverständnis soziologisch zu entsprechen. Das ist noch etwas anderes als das im 20. Jahrhundert so vielverhandelte Problem der allgemeinen Säkularisierung und also jene Entwicklung, die ja schon im Mittelalter anhebt, durch die Reformation beschleunigt wird und dann mit der Aufklärung zum Durchbruch kommt in der überzeugten Erkenntnis, daß es ohne Religion genauso gut oder genauso schlecht geht wie unter dem Anspruch von Theologie und Kirche, daß eine Emanzipation sogar dazu beitragen könnte, das es wenigstens dem Denken sogar besser geht, wenn nicht gar dem Leben überhaupt. Bis in das 20. Jh. hinein aber blieb die Kirche in ihrem Kampf gegen die Säkularisierung ein Massenmedium, ungeachtet der schließlich rapide anwachsenden Kirchenaustritte. Und solange sie das größte Massenmedium blieb, konnte sie auch die in sie gesetzten staatspolitischen Erwartungen prinzipiell einlösen. Davon aber kann heute gar nicht mehr die Rede sein. Im Zeitalter der elektronischen Unterwerfung menschlichen Denkens und Fühlens sind Kanzel und Enzyklika zu medialen Relikten degradiert. In den USA wurden daraus schon längst Konsequenzen gezogen und sog. electronic churches installiert, die nun wieder ein Millionenpublikum erreichen, das bis vor kurzem noch auf die Harmaggedon-Schlacht gegen das »Reich des Bösen« eingestimmt wurde und nun nach neuen Feinden Ausschau halten soll. Die sog. elektronische Kirche ist das massenwirksame Produkt auch der mediensoziologischen Einsicht, daß die Potenz zu gesellschaftlicher Integration ebenso wie zu ideologischer und politischer Gleichschaltung von der Kirche definitiv übergegangen ist auf die weltweite Institution des Bildschirms, dem sich selbst der hartgesottenste Intellektuelle mit ebensolchem Erfolg zu entziehen vermag wie der säkularisierte Kleinbürger dem heimlichen Wunsch nach eine kirchliche Beerdigung.

Der konstantinische Kirche ist mit den elektronischen Medien eine Konkurrenz erwachsen, derer sie sich auf Dauer wohl auch kaum dadurch wird erwehren können, daß sie sich selber dieses Mediums bedient und Bischöfe sich von PR-Beratern auf Talk-Runden vorbereiten lassen. Denn die Meinungsbildungs-Industrie ist Teil eines Marktes, der inzwischen selber alle Funktionen übernommen hat, die vordem von der konstantinischen Kirche ausgefüllt wurden. Nicht mehr die Kirche, es ist nunmehr der Markt alleine, der die kapitalistische Welt im Innersten zusammenhält. Was einst die Kirche leistete, das leistet nun er in einer Suffizienz, die alle bisherigen Integrations- und Gleichschaltungsmechanismen überbietet, denn er bietet ökonomische Basis und ideologischen Überbau in einem. Gruppierten sich im Mittelalter die Marktbuden um das dominierende Kirchengebäude herum, so meint die Kirche heute, sich gezwungen zu sehen, sich ihrerseits auf dem alles dominierenden Markt einstellen zu müssen, um überhaupt noch Öffentlichkeit erreichen zu können. Das Amt des cultus publicus ist übergegangen auf die bestellten Priester der Marktwährung und der Programmgestaltung. Der gotische Dom steht buchstäblich im Schatten der alles überragenden Banken. Und der von Marx beschriebene Fetischcharakter der Ware und des Geldes sorgt dafür, daß dieser Markt nun seinerseits nachgerade religiöse Signaturen trägt, jedenfalls angebetet und verherrlicht wird. Und Menschenopfer bringt man ihm allemal dar, zu Millionen, wenn es denn sein muß. Der Markt als Götze einer Gesellschaft, in der exkommuniziert wird, wer nicht sein ganzes Leben, sein ganzes Trachten und Streben der Verehrung und Mehrung des Geldes unterwirft. Und Leben heißt: kaufen und kaufen lassen. In der Einkaufszone blitzt der Sinn des Lebens auf. Am Markt wird alles orientiert, er bietet auch für alles Orientierung. Er bedarf keiner externen Wertebegründung, er begründet sich selbst. Und Identität stellt sich ein, wenn man auf diesem Markt seinen Platz gefunden hat. Wer hier verfehlt , der gehört ohnehin nicht zu dieser Gesellschaft. Und selbst wer zu ihr gehört, hat keine letzte Sicherheit. Zum Schluß bleibt ihm dann doch nur die Göttin Fortuna, das große Los in der Fernseh-Lotterie. Die Glotze als Tabernakel einer Gesellschaft, deren Geist als Dividende selbst in den Köpfen der Arbeitslosen spukt. Auch die jederzeit einstimmbar, für das Allerheiligste jeden heiligen Krieg zu führen oder wenigstens vorbereiten zu lassen - siehe Rühe und der freie Zugang zu den heiligen Märkten und Rohstoffen in aller Welt.

Die Situation der konstantinischen Kirche auf dem kapitalistischen Weltmarkt ähnelt - aufs Entscheidende gesehen - durchaus der der Tempelpriesterschaft im römischen Weltreich, wobei dieser Markt, auf dem man nun auch wieder Tempel bauen kann, sehr wohl auch noch für Kirchen einen Platz hat. Doch abkömmlich sind sie bereits geworden. Und diese Entwicklung der Kirche im Kapitalismus steckt voller Hoffnung. Denn einer Kirche, der das gesellschaftliche Fundament ihres Konstantinismus entzogen wird - sei es durch eine politische Revolution oder eben auch durch eine wissenschaftlich-technische Revolutionierung - einer solchen Kirche ist wenigstens die geschichtliche Chance eröffnet, das biblische Verständnis von Kirche wiederzuentdecken. Vor dem Hintergrund dieser Hoffnung nimmt das Thema »Kirche im Kapitalismus« eine überraschend neue Wendung, jedenfalls ist es nunmehr nicht nur zwei-, sondern sogar schon dreideutig.

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