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 II. PROTEST UND POLEMIK                      
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ABWICKLUNG DER HUMBOLDT-UNIVERSITÄT  
Bescheidener Akt der Solidarität  -
»Alle Linken müssen raus«    
[siehe Wikipedia] 
TOTALABWICKLUNG DER DDR 
Über den Umgang mit deutschen Kommunisten
DER NEUE »REALISMUS« 
Marginalie zu André Brie
NEUE GLAUBENSSÄTZE 
Marginalie zu Wolfgang Gehrcke
KELLER MIT DOPPELTEM BODEN 
Glosse zu Dietmar Keller 
DIE MORAL DER GESCHICHTE: EINE GESCHICHTE OHNE MORAL 
Polemik contra Michael Brie
SCHWARZBUCH ODER POESIEALBUM? 
Eine 
Rezension 
KOLUMNE 
Vom Kopf auf die Füße stellen...
 
WISSENSCHAFT UND AUCH KATECHISMUS
 
Marxismus-Leninismus in der DDR MARXISTISCHES
FORUM Macht und Sprache
 
EIN LESERBRIEF Stalin
oder doch nicht Stalin
 
EIN KOLLOQUIUM Nach-Denken über den Sozialismus
 
  
Bescheidener Akt der Solidarität 
  
    [in: Humboldt-Universität
    23/24-1990/91, S. 3] 
    An die Mitglieder des
    Akademischen Senats der Humboldt-Universität zu Berlin 
    Magnifizenz, verehrte Kolleginnen und Kollegen,
    liebe Studentinnen und Studenten! 
    Nachdem durch das Berliner Verwaltungsgericht am 20.
    Februar 1991 fast 1000 Kollegen unserer Universität zur »Abwicklung«
    freigegeben wurden, sehe ich mich - auch aus moralischen Gründen - nicht
    mehr in der Lage, mein Senatorenamt weiterzuführen. 
    Ich möchte Sie bitten, meinen Rücktritt als ein
    Zeichen des Protestes gegen eine politische Entscheidung zu verstehen, die -
    mutatis mutandis - unheimliche Analogien zu den dunkelsten Zeiten unserer
    Universitätsgeschichte nahelegt. 
    Wenn es nach dem Urteil des Verwaltungsgerichtes
    nunmehr deutsches Recht sein soll, daß Vertreter des Marxismus nicht nur
    aus Strukturgründen, sondern prinzipiell und also selbst dann zu entfernen
    sind, wenn sie nach der Auflösung der Sektion Marxismus-Leninismus
    verwaltungstechnische Aufgaben übernommen haben, dann erinnert mich dieser
    Vorgang auf fatalste Weise an Säuberungsaktionen, die einstmals darauf
    zielten, die Universität »judenrein« melden zu können. 
    Als Theologe bin ich seit Jahren Mitglied einer
    Fakultät, an der der Dialog zwischen Christen und Marxisten zur Signatur
    der akademischen Arbeit gehörte. Diesem Dialog verdanke ich wertvolle
    wissenschaftliche Einsichten und menschliche Erfahrungen. Und so möchte ich
    meinen Rücktritt auch als einen bescheidenen Akt der Solidarität
    verstanden wissen. 
    Eine Universität, die am Ende des 20. Jahrhunderts
    angewiesen wird, Marxisten auszugrenzen, wird faktisch dazu verurteilt, den
    Gedanken der universitas litterarum preiszugeben. Dieser typisch deutsche
    Radikalismus dürfte unter den Gebildeten westeuropäischer Universitäten
    kaum auf Verständnis stoßen. 
    Wäre ich nicht für den Existenzunterhalt einer nach
    marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten viel zu großen Familie
    verantwortlich, würde ich unter den gegebenen Umständen meine Kündigung
    einreichen. So bleibt mir nur der Protest in der Gestalt eines Rücktritts
    von meinem Senatorenamt. 
    In der Hoffnung, mit dieser zweifellos inkonsequenten
    Haltung nicht zu der wieder einmal erstaunlich großen Schar von
    Opportunisten gerechnet zu werden, grüße ich Sie sehr freundlich. 
    Ihr Dozent Dr. sc. theol. Dieter Kraft 
    Berlin, den 23. Februar 1991 
    »Alle Linken müssen raus« 
    [in: UnAUFGEFORDERT 22,
    Studentenzeitung der Berliner Humboldt-Uni vom 17. April 1991, S. 5] 
    »Alle Linken müssen raus.« Diese Strategie sieht der Theologiedozent Dieter Kraft hinter der
    Abwicklung - und reichte seinen Rücktritt aus dem Akademischen Senat ein. UnAUF
    sprach mit ihm. 
    UnAUF: Sie
    haben nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zur Abwicklung ihren Rücktritt
    als Mitglied des Akademischen Senats erklärt. Warum? 
    Kraft: Wer
    von einem Konzil in den Senat gewählt wird, kann nachher eigentlich nicht
    mehr in diesem Senat weilen, wenn ein Großteil seiner Wähler nicht mehr
    der Universität angehört. Und das ist mit der Abwicklung passiert. Das
    andere ist, daß man in der jetzigen Situation wenigstens noch durch so
    einen protestierenden Akt - der ja hilflos genug ist - widersprechen muß. 
    Das Bundesverwaltungsgericht wird jetzt vielleicht
    drei Jahre brauchen, um festzustellen, ob das denn alles rechtens ist, was
    da passierte. Und dann könnten die Kollegen, die - ich will nicht sagen:
    abgewickelt - entlassen wurden, sich wieder einklagen in die Universität,
    und da würden sie auch noch einmal drei bis sechs Jahre brauchen. Das würde
    bedeuten, in neun Jahren würde dann irgendein Gericht ihnen bestätigen:
    jawohl, es ist Ihnen Unrecht geschehen. Nur wird dann eine Einklagung gar
    nicht mehr möglich sein. Ich halte das Ganze für einen Skandal. 
    UnAUF: Nun
    haben ja die meisten der Abgewickelten zumindest theoretisch die Chance,
    sich nach der Warteschleife neu zu bewerben. Nur die ehemaligen Angehörigen
    der Sektion M/L sind sofort entlassen worden. Sie haben Ihren Rücktritt
    sehr stark mit der Solidarität für die M/L-Kollegen motiviert. Lohnt es
    sich denn, wegen dieser doch relativ kleinen Zahl von Leuten den Senat zu
    verlassen? 
    Kraft: Ich
    bin zu sehr Theologe, um mich auf solche Quantifizierungen einlassen zu können.
    Es geht ja hier um eine prinzipielle Frage. Man könnte das - mal sehr
    schematisch abgekürzt - auf den Nenner bringen: alle Linken müssen erst
    mal raus. Und wer da wirklich links ist, wissen wir natürlich nicht so
    genau, bis auf die professionell Linken - und das sind die M/Ler. Bei den
    anderen werden wir da noch mal nachschauen ... Ich halte es mit Thomas Mann
    und denke, daß es nicht nur die Grundtorheit unseres Jahrhunderts wäre,
    sondern einfach wissenschaftliche Idiotie, M/L aus der Universität
    herauszunehmen. Am Ende des 20. Jahrhunderts zu behaupten, M/L sei keine
    Wissenschaft, ist entweder keck oder dumm. Und ich glaube, daß mir da viele
    westeuropäische Geisteswissenschaftler zustimmen werden. 
    UnAUF: Ich
    will nicht bestreiten, daß der Marxismus eine ernstzunehmende Wissenschaft
    ist. Aber ich habe auch fünf Jahre an dieser Universität studiert und die
    M/L-Ausbildung über mich ergehen lassen müssen. Und ich würde zumindest
    bezweifeln, daß die Mehrheit der an der Sektion M/L Beschäftigten
    ernstzunehmende Wissenschaftler, ja überhaupt Marxisten gewesen sind. Ich
    denke, daß Sie vielleicht eher mit den Ausnahmen zu tun hatten. 
    Kraft: Ich
    war wahrscheinlich ein bißchen privilegiert an der Sektion Theologie. Wir
    hatten sehr seriöse, ernstzunehmende Gesprächspartner von M/L. 
    UnAUF: Das
    ist wohl kein Zufall. Es wurden immer die besten Leute auf die Theologen »angesetzt«. 
    Kraft: Man
    konnte jedenfalls ganz sachlich im Dialog um Erkenntnisse ringen. Und dann
    ist es wie in jedem anderen Fachbereich auch: es gibt die interessanten und
    die weniger interessanten Vertreter. Es gibt die medizinischen Koryphäen,
    und es gibt die praktischen Ärzte ... 
    Aber hier geht es um dieses á priori, mit dem diese
    Leute weg müssen. Und darum, daß sie sich an dieser Universität nicht mal
    mehr als Pförtner bewerben können. Selbst dort, wo sie nach der Auflösung
    der Sektion M/L in die Verwaltung
    anderer Bereiche reingekommen sind, müssen
    sie verschwinden. Und das will mir nicht in den Kopf. 
    Das andere ist, daß mit der Abwicklung der fünf
    Bereiche ein M/L-»verseuchtes« Wissenschaftspotential liquidiert werden
    sollte. Dort haben wir, z. B. bei den Historikern, so schlechte Leute nicht,
    auch sehr exponierte. Natürlich sind deren Arbeiten aus einer ganz
    bestimmten Perspektive artikuliert. Das ist mir symptomatisch: es sollen
    alle, die in irgendeiner Weise ideologisch »staatstragend« waren,
    ausgegrenzt werden. Für den Wissenschaftssenator hat das sicherlich auch
    eine innere Logik. Nur bin ich nicht der Wissenschaftssenator. 
    UnAUF: Nun
    war ja M/L doch in besonderer Weise »staatstragend«: die Ausbildung hatte
    eine exponierte Rolle im Studienplan; wir haben viel Zeit vertan mit
    M/L-Lernkonferenzen und ähnlichem Schwachsinn; die M/L-Noten waren mit die
    wichtigsten überhaupt für Diplom und Doktortitel ... Und wer dort beschäftigt
    war, der hat, denke ich, in besonderer Weise diese Perversionen mitgetragen. 
    Kraft: Mit
    dem Begriff »Perversion« wäre ich vorsichtig. Es liegt in der Logik der
    gegenwärtigen Politik, daß erst einmal alles pervers gewesen sein muß.
    Ich weiß nicht, was perverser ist: die Situation jetzt, diese verkehrte
    Welt, oder die, die wir hatten. Daß da vieles komisch, schwierig, manches
    auch schwer erträglich, vieles auch lächerlich war, ist ja ganz
    unbestritten. 
    UnAUF:
    Meinen Sie nicht, daß Sie trotz allem im Senat mehr hätten bewirken können,
    auch nach der Abwicklung? Ist Ihr Rücktritt nicht eher ein Punkt für die
    Leute in der Wissenschaftsverwaltung, die lieber gemäßigtere, angepaßtere
    Leute in den Universitätsgremien sähen? 
    Kraft:
    Viele Kolleginnen und Kollegen haben mich gerade mit diesem Vorbehalt
    gebeten, den Schritt noch einmal zu überdenken. Aber: ob es der akademische
    Senat will oder nicht - er trägt indirekt und mittelbar die Verantwortung
    dafür, daß die Kollegen Entlassungsschreiben bekommen haben. Und diese
    Verantwortung kann ich für meine Person nicht übernehmen. Das andere ist,
    daß ich nach dem Jahr Senatsarbeit und der Zuspitzung der
    wissenschaftspolitischen Situation nicht mehr genau erkennen kann,
    wo denn der Senat wirklich eigenständig Verantwortung tragen kann. Wenn
    es darauf ankommt, wirkliche universitätspolitische Entscheidungen zu
    verantworten, wird - das hat die Abwicklung bewiesen - der Akademische Senat
    ausgeschaltet. 
    Einige Kollegen von FU und TU werden durchaus recht
    haben mit ihrer Befürchtung, daß das rigide Eingreifen in die
    Humboldt-Universität für die gesamte Berliner Wissenschaftslandschaft auch
    als Fanal gedeutet werden kann. es gibt auch an der FU einige Bereiche, über
    die der Wissenschaftssenator nicht so sehr glücklich ist. Und man wird
    vielleicht damit rechnen müssen, daß Ähnliches, vielleicht nicht unter
    dem Begriff »Abwicklung«, sondern »Neustrukturierung« oder »Reorganisation«,
    sich dort ebenfalls ereignet. 
    UnAUF:
    Kommt bei Ihrer Entscheidung vielleicht auch eine gewisse Senats»müdigkeit«
    hinzu? 
    Kraft:
    Eigentlich nicht. Das spielte keine Rolle. Ich würde sehr gern weiter
    mitgearbeitet haben im Senat - nur unter den Bedingungen geht das nicht. Es
    gibt Fragen, die so ein moralisches Gewicht bekommen, daß man gegen seinen
    eigenen Charakter verstoßen würde, wenn man sie beiseite schöbe. 
    Das Gespräch führte ms.
    
  
 
  
Über den Umgang mit deutschen Kommunisten 
  [Beitrag zum Kolloquium anläßlich des
  50. Jahrestages der Ermordung Ernst Thälmanns, Berlin, 9. Juli 1994, in: Weißenseer
  Blätter 3/1994, S. 23-29 /gekürzte Fassungen in: ND, 23./24.7.1994, S. 10;
  UZ, 19.8.1994, S.13+15] 
  Ein wenig scheue ich mich, zu diesem Thema auf einem
  Kolloquium zu reden, bei dem es weit kompetentere Referenten und zudem wohl
  niemanden gibt, der nicht um die ungeheuerlichen Dimensionen der sog. »Abwicklung«
  wüßte und schließlich auch darum, wie die deutsche Bourgeoisie mit
  Kommunisten umzugehen pflegt. Ich habe aber dennoch nicht gezögert, die
  Einladung zu diesem Thälmann-Kolloquium anzunehmen. Schließlich wurde Thälmann
  vor 50 Jahren in jenem KZ ermordet, in das auch der evangelische Theologe
  Dietrich Bonhoeffer vor seiner Hinrichtung am 9. April 45 deportiert worden
  war und in dem der evangelische Pfarrer Paul Schneider schon am 18. Juli 39 zu
  Tode geprügelt wurde. Bonhoeffer und Schneider sind Thälmann nie begegnet,
  aber Buchenwald hat ihre Biographien in eine Gemeinsamkeit geführt, die über
  ihren Tod hinaus Verbindlichkeit schafft. In den faschistischen
  Konzentrationslagern, deren Ziel die tödliche Isolation war, ereignete sich
  ja weithin das Gegenteil, nämlich jene objektive Gemeinschaft, die dann nach
  1945 auch dazu führte, daß es unter denen, die überlebten, Christen und
  Kommunisten gab, die, jedenfalls im Blick auf ihre jüngste Vergangenheit, nun
  eine gemeinsame Herkunft hatten. Eine historisch einzigartige Situation, die
  freilich eine Ausnahme blieb, denn die KZ waren nicht für Christen errichtet
  worden, die sich - aufs Ganze gesehen - mehr oder weniger arrangiert und sich
  als sog. »Deutsche Christen« mit dem Faschismus sogar begeistert
  identifiziert hatten. 
  Um so einprägsamer wurden denn auch die Namen jener,
  denen man in den protestantischen Kirchen nach 1945 den Rang von Märtyrern
  zuerkannte - nicht selten allerdings auch bestimmt von dem kirchenpolitischen
  Motiv, sich nun nachträglich in dem Widerstand Einzelner repräsentiert zu
  geben. Auf die Idee, auch eines Ernst Thälmann kirchlich zu gedenken, kam in
  dieser Kirche offiziell natürlich niemand. Dabei wäre sie so abwegig gar
  nicht gewesen. Am Vorabend des Münchener Abkommens hatte der 1935 aus
  Deutschland vertriebene Schweizer Theologe Karl Barth seinem tschechischen
  Kollegen Josef Hromádka geschrieben, »daß jetzt jeder tschechische Soldat
  nicht nur für die Freiheit Europas, sondern auch für die christliche Kirche
  stehen und fallen wird« (Brief vom 19.9.38). Ein Satz, der einen Sturm der
  Entrüstung auf seinen Verfasser zog und die Leitung der Bekennenden Kirche in
  Deutschland gar zu einem »förmlichen Verweisbrief« veranlaßte. Gleichermaßen
  entrüstet hätte man sich nach 1945 in den deutschen Kirchen über den
  Gedanken, daß der antifaschistische Widerstand deutscher Kommunisten im Sinne
  Barths letztlich auch »für die christliche Kirche« geleistet worden sei,
  wobei davon einmal ganz abgesehen werden darf, daß gerade auch deutsche
  Kommunisten vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit der deutschen
  Kirchengeschichte einer solchen Vorstellung wohl höchst zwiespältig gegenübergestanden
  hätten. Für die offizielle Kirche aber wäre sie grundsätzlich indiskutabel
  gewesen, denn Thälmann war schließlich kein Christ, sondern Kommunist. Und
  wenn man schon nicht oder nicht hinreichend antifaschistisch gewesen war,
  antikommunistisch wollte man auch nach 1945 auf jeden Fall sein und bleiben. 
  Ich erwähne dieses eigentlich nur, um zum Ausdruck zu
  bringen, daß ich als evangelischer Theologe an diesem Kolloquium eben nicht
  nur teilnehme, weil es erklärtermaßen nicht nur um Thälmann geht. Mir persönlich
  geht es gerade auch um diesen deutschen Kommunisten, und nachdem ich zu
  sozialistischen DDR-Zeiten häufig Gelegenheit hatte, über den Theologen
  Dietrich Bonhoeffer zu sprechen, freut es mich nun zu kapitalistischen
  BRD-Zeiten ganz besonders, auf eine Veranstaltung zum Gedenken des Kommunisten
  Ernst Thälmann geladen worden zu sein. Und wenn es auch in dem mir
  angetragenen Thema nicht vordergründig um Thälmann selbst geht, so geht es
  tatsächlich doch um durchaus Analoges, denn man wird den Totalitarismus, mit
  dem die DDR zerschlagen wurde und noch immer »abgewickelt« wird, kaum
  begreifen können, wenn man sich dabei ausschließlich auf kapitalökonomische
  Interessen konzentriert. Diese allein sind zugegebenermaßen schon so massiv,
  daß sie eine ausreichende Erklärung für die verwüstende Tätigkeit der
  sog. »Treuhand« liefern könnten. Und die Logik, mit der hier gearbeitet
  wird, ist ja auch durchaus stringent: die DDR muß um jeden Preis
  deindustrialisiert werden, um dem westdeutschen Industriekapital mögliche
  Konkurrenz auszuräumen und den Handelskonzernen jenen
  Alleinvertretungsanspruch einzulösen, den das Finanzkapital bereits mit dem
  3. Oktober 1990 endgültig erobert hatte. Entsprechend sieht denn auch die
  Rechnung aus, die von der sog. »Treuhand« aufgemacht wurde: von dem im
  Oktober 1990 auf ca. 650 Milliarden veranschlagten DDR-Vermögen ist nach
  nicht einmal vier Jahren nicht nur keine einzige Mark übriggeblieben. Die
  offizielle Bilanz weist heute sogar ein Defizit von 275 Milliarden aus. 
  Eine auf den ersten Blick unglaubliche und nach den
  sakrosankten Maximen der Kapitalverwertung absurde Bilanz, die in der
  Geschichte des Kapitals ohne Beispiel ist. Kein Konzern der Welt wäre in der
  Lage, 650 Milliarden in knapp vier Jahren selbst unter ungünstigsten
  Bedingungen nicht wenigstens auf 700 Millarden zu akkumulieren. Wenn die sog.
  »Treuhand« nunmehr sogar mit riesigen Schulden operiert, dann gibt es dafür
  nur eine Erklärung: sie hat mindestens 275 Milliarden investiert, um aus dem
  zehntstärksten Industrieland der Welt eine Industrieruine werden zu lassen.
  Daß sich das Kapital weltweit und weithin zum Nulltarif aus dem Volksvermögen
  der DDR bedienen konnte, ist also nur die eine und zwar jene Seite der
  Liquidationspolitik, die durchaus Tradition hat. Kriege werden geführt, um
  Beute zu machen, und wer nach einem gewonnen »kalten« Krieg Millionenobjekte
  für 1 Mark »kaufen« kann, hat sogar den Vorzug, wählen zu dürfen, ob er
  denn nun als einfacher Käufer oder einfach als Räuber zählen möchte. Und
  heutzutage man muß ja auch gar nicht erst zum Kreis der Golfspieler gehören,
  um Sinn und Geschmack dafür zu bekommen, daß letzteres nur unter bestimmten
  Bedingungen als ehrenrührig gilt. 
  Für die andere Seite dieser Liquidationspolitik lassen
  sich Traditionen hingegen weit schwieriger ausmachen, denn es ist historisch
  wohl beispiellos, daß die herrschende Klasse eines Staates nach der
  siegreichen Eroberung eines Landes Hunderte von Milliarden ausgibt, um das
  besiegte Land industriell, kulturell und sozial zu destruieren. Der
  Kolonialismus hatte ein vitales Interesse daran, das bestehende
  wirtschaftliche Potential der eroberten Länder zu erhalten und zu entfalten.
  Schließlich ging es um die optimale Ausbeutung der unterworfenen Gebiete.
  Auch wenn die Annexionspolitik der deutschen Bourgeoisie gegenüber der DDR
  mit der abstrafenden Rute des Kolonialherren durchgesetzt wird , gemessen an
  dem klassischen Kolonialinteresse dürfte es im wesentlichen nicht einmal
  korrekt sein, von Kolonialisierung zu sprechen. Viel eher bietet sich eine
  Erinnerung an den Morgenthau-Plan an, der die Vernichtung der deutschen
  Industrie ebenso vorsah wie die kollektive Bestrafung aller Deutschen und jene
  umfassende Depotenzierung Deutschlands zum Ziel hatte, von der heute - mutatis
  mutandis - Ostdeutschland betroffen ist. Dabei geht die herrschende Bonner
  Politik über die Vorstellungen des US-amerikanischen Finanzministers
  Morgenthau sogar noch hinaus. Dessen spektakulär gewordenes Memorandum sah
  immerhin noch vor, aus dem Deutschen Reich einen Agrarstaat zu machen. Im
  Unterschied dazu wurde seit dem 3. Oktober 1990 selbst die einst blühende
  Landwirtschaft der DDR verwüstet. 
  Von und mit der GBM, der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht
  und Menschenwürde , wurden seit 1992 drei »Weißbücher« herausgegeben, in
  denen authentisch dokumentiert ist, wie vielfältig die Analogien zum
  Morgenthau-Plan tatsächlich sind und wie ausgesucht zynisch sich demgegenüber
  die Wahlkampfdemagogie ausnimmt, die im März 1990 noch mit einem ostdeutschen
  Marshall-Plan auf Stimmenfang ging. Und dieses, wie wir wissen, mit einem
  Erfolg, der, wie man ja jetzt stereotyp zu sagen pflegt, »aus heutiger Sicht«
  die Frage zuläßt, was in der DDR seit dem VIII. Parteitag wohl schnellere
  Fortschritte gemacht haben mag: das Wohnungsbauprogramm oder die politische
  Dummheit. Die 3 »Weißbücher«, denen noch weitere folgen werden, haben in
  einem ersten Fazit eine Bilanz gezogen, die so dramatisch ausfällt, daß der
  Vorsitzende des Kuratoriums der GBM, Pastor Dr. Dieter Frielinghaus, bereits
  im Vorwort zum ersten Band resümieren mußte: »Wir bezweifeln, daß jemals
  außerhalb von Kriegs- und Nachkriegszeiten das Leben so vieler Menschen in so
  kurzer Zeit in solche Ungewißheit, Ratlosigkeit und Not gestürzt worden ist.«
  ( Wolfgang Richter (Hrsg.): Unfrieden in Deutschland. Diskriminierung in den
  neuen Bundesländern, Berlin 1992, S. 8) 
  Die systematische Demontage der DDR hat inzwischen alle
  Lebensbereiche erreicht, alle Klassen und Schichten der Bevölkerung und auch
  alle Generationen. Bereits eineinhalb Jahre nach dem 3. Oktober 1990 waren 3.
  396 000 Millionen Menschen in unterschiedlicher Weise direkt von
  Arbeitslosigkeit betroffen, mit den entsprechenden Familienangehörigen also
  über 60 % der Bevölkerung. Nachdem das Bauernland wieder in Junkerhand
  gefallen ist, werden demnächst 75 % der Beschäftigten im primären
  landwirtschaftlichen Sektor arbeitslos sein. Das sind 600 000 Bäuerinnen und
  Bauern, mit ihren Familien weit über 1 Million Menschen. Von den in Forschung
  und Lehre tätigen 195 000 Wissenschaftlern waren schon im Dezember 1992 nur
  noch 12,1 % in einer Vollzeitstelle. Und von den ca 300 000, die in der
  Volksbildung der DDR tätig waren, sind heute bereits über 75 000 entlassen
  worden. Und es ist noch gar nicht abzusehen, wie viele man künftig noch mit
  Berufsverboten belegen wird. 
  Ich gehe davon aus, daß ich in dem Kreis dieses
  Kolloquiums keine umfassende Statistik vorzulegen brauche, um die Totalität
  der herrschenden »Abwicklungs«-Praxis noch anschaulicher machen zu müssen.
  In eine solche umfassende Statistik würden dann auch jene Hunderttausende
  aufgenommen werden müssen, die in den verschiedensten Funktionen im Dienst
  des Staates gestanden haben, auch in dem der Gewerkschaften und anderer
  gesellschaftlicher Organisationen. Und aufgenommen werden müßten natürlich
  auch all jene, die die zur Ware degradierte Wohnung nicht mehr bezahlen können,
  die als Rentner von Armut bedroht sind, die als Jugendliche keine Lehrstelle
  finden und keine Lebensperspektive haben, all jene auch, die den sog. »Alteigentümern«
  weichen müssen, für die medizinische Hilfe zu einer Geldfrage zu werden
  beginnt, für die Bildung ein unerreichbares Privileg werden wird und für die
  soziale Sicherheit schon längst zu einem Fremdwort mutiert ist - ganz zu
  schweigen von den Millionen Biographien, die nunmehr als »abgebrochen«
  gelten, obwohl sie doch vorsätzlich zerbrochen worden sind. 
  Es wäre ein Irrtum, davon auszugehen, diese
  katastrophale Situation sei lediglich eine sog. »Begleiterscheinung« der
  Machtergreifung des Kapitals, zu dessen Herrschaft Arbeitslosigkeit und
  soziale Verelendung nun einmal ebenso konstitutiv gehören wie die rücksichtslose
  Privatisierung und der gnadenlose Konkurrenzkampf. Selbstverständlich ist die
  Situation im nunmehrigen »Ostdeutschland« auch eine Folge der ganz gewöhnlichen
  Systemmechanismen des Kapitalismus samt seiner gegenwärtigen Krise. Aber
  dieses ist eben nur die eine Seite der Kapitalisierung der DDR durch die
  deutsche Bourgeoisie. Die Totalabwicklung der DDR ist mehr als der von Verwüstung
  begleitete Prozeß einer reinen Systemakkommodation. Sie ist zugleich und
  zudem eine umfassende Vergeltungsaktion dafür, daß deutsche Kommunisten 40
  Jahre lang dem deutschen Kapital den ungehinderten Zugriff auf einen
  bedeutenden Teil des deutschen Territoriums verwehren konnten. Dieses muß natürlich
  in den Augen der deutschen Bourgeoisie als ein Unrecht von unerhörtem Ausmaß
  gelten. Und wenn die DDR heute von ihnen und ihren Ideologen als »Unrechtsstaat«
  disqualifiziert wird, dann trifft dieses Urteil gerade auch in seiner
  Pauschalität einen politischen Sachverhalt, der geschichtlich ja durchaus
  gedeckt ist. Wenn man davon ausgeht, daß es keinen abstrakten Rechtsbegriff
  gibt und das herrschende Recht immer das Recht der herrschenden Klasse ist,
  dann läßt sich nach Maßgabe des heute nun auch wieder zwischen Elbe und
  Oder herrschenden Rechts des Kapitals auf uneingeschränkte Akkumulation
  sagen: Mit der Existenz der DDR wurde der deutschen Bourgeoisie in der Tat ein
  Unrecht zugefügt, zudem noch vorsätzlich. Die Auseinandersetzung mit der »Unrechtsstaats«-These
  greift deshalb dort viel zu kurz, wo lediglich apologetisch beteuert wird, daß
  auch die DDR ein Rechtsstaat gewesen sei. Die eigentliche Auseinandersetzung
  beginnt nicht dort, wo die These vom »Unrechtsstaat« einfach bestritten
  wird, sondern in der Auseinandersetzung mit jenem Recht, von dem her das
  Kapital die »Unrechtsstaats«-These ableitet. Wobei das Rechtsmonopol des
  Bourgeois mit dem Rechtspostulat des Citoyen nicht einfach identifiziert, die
  Rechtsdoktrin des Bürgerlichen mit dem Rechtsanspruch des Bürgers nicht
  kurzschlüssig verwechselt werden darf. 
  Ähnliches gilt übrigens auch für die These von der
  »SED-Diktatur«, die ja nicht deshalb demagogisch ist, weil es in der DDR
  keine Diktate gegeben hätte, sondern weil in und mit ihr unterstellt wird, daß
  die vom Kapital beherrschte Gesellschaft keine diktierte Gesellschaft sei.
  Gerade Thälmann hat den Begriff der »Diktatur des Proletariats« in strenger
  Korrelation zur real existierenden »Diktatur der Bourgeoisie« gebraucht, und
  damit zugleich zum Ausdruck gebracht, daß jede Klassengesellschaft dem Wesen
  nach eine Diktatur ist, die sozialistische gar nicht ausgenommen. Die
  Auseinandersetzung mit der demagogischen Formel von der »SED-Diktatur« kann
  also nicht damit einsetzen, die Diktatur des Proletariats nachträglich
  kaschieren zu wollen, wiewohl durchaus auch die eigene Frage beantwortet
  werden muß, inwieweit und wie lange die Diktate der SED die Diktatur des
  Proletariats gültig zum Ausdruck gebracht haben. Die eigentliche
  Auseinandersetzung aber muß vielmehr darin bestehen, transparent zu machen,
  daß der Begriff der Diktatur im wesentlichen nicht eine bestimmte politische
  Herrschaftspraxis zum Inhalt hat, sondern ein gesellschaftliches
  Herrschaftsverhältnis, das auch mit den Mitteln der parlamentarischen
  Demokratie aufrechterhalten werden kann. Die parlamentarische Demokratie
  schließt die Diktatur des Kapitals nicht aus, sie ist vielmehr eine ihrer
  politischen Gestalten. Und seit dem 3. Oktober 1990 ist das in Ostdeutschland
  auch für immer mehr Menschen zunehmend handgreiflich geworden. Auch die
  Tatsache, daß es im sog. »Rechtsstaat« nicht etwa um soziale Gerechtigkeit
  geht, sondern um soziale Ungerechtigkeit auf rechtlicher Grundlage, hat dazu
  geführt, daß legislative Entscheidungen gewählter Politiker in wachsendem
  Maße nicht nur als Diktate erfahren, sondern als solche auch durchschaut
  werden, selbst wenn sie von parlamentarischen Mehrheiten sanktioniert worden
  sind. Was in den gleichgeschalteten Medien gern unter dem Stichwort »Politikverdrossenheit«
  verhandelt wird, ist im Grunde ja nichts anderes als die Verdrossenheit darüber,
  daß »die da oben eh machen, was sie wollen«. Und selbst das unreflektierte
  Bewußtsein davon, daß »die da oben eh machen, was sie wollen«, ist der
  erste Schritt zur Einsicht dessen, was eine Klassengesellschaft ausmacht.
  Gegenwärtig wäre mit einer solchen Einsicht politisch nicht sehr viel
  gewonnen, wenn sie davon absehen würde, daß es nun eben doch einen
  erheblichen Unterschied macht, ob das Kapital in der Gestalt einer »parlamentarischen
  Demokratie« oder in der des offenen Faschismus regiert. Denn die Gefahr eines
  erneuerten Faschismus beginnt inzwischen wieder so groß zu werden, daß die
  Verteidigung der »parlamentarischen Demokratie« zu einer aktuellen Aufgabe
  aller antikapitalistischen Kräfte wird. 
  Gemessen an Frankreich, aber sogar auch an Großbritannien
  gehört es zum Spezifischen der kapitalistischen Gesellschaft deutscher
  Provenienz, daß die politische Linke nicht zur Nation gerechnet wird, schon
  gar nicht, wenn sie sich als kommunistisch definiert. Dieses Verdikt hat
  Tradition und reicht bekanntlich zurück bis zu den sog. »Sozialistengesetzen«
  des Urgroßvaters des Grafen von Einsiedel, der dessen ungeachtet wenig
  Probleme mit dem Nationalen hat. Unter Kanzler Bismarck durften Sozialisten
  natürlich nicht nur keine Professuren innehaben, sie sollten letztlich überhaupt
  nichts mehr dürfen. Unter Kanzler Hitler durften sie nicht einmal mehr am
  Leben bleiben. Unter Kanzler Adenauer sorgten Hitlers Richter und Staatsanwälte
  dafür, daß Tausende Kommunisten und Linksdemokraten wieder in Gefängnissen
  verschwanden. Unter dem SPD-Kanzler Brandt wurden sie mit Berufsverboten
  belegt. Und unter dem CDU-Kanzler Kohl geht es seit Oktober 90 schon gar nicht
  mehr ausschließlich um Kommunisten, sondern um den sog. »staatsnahen« DDR-Bürger
  schlechthin, der mit dazu beigetragen hat, daß der erste sozialistische Staat
  auf deutschem Boden immerhin 40 Jahre Bestand hatte. Und weil es sich eben um
  einen sozialistischen Staat handelte, geht es in der politischen Verfolgung
  und sozialen Diskriminierung des »staatsnahen« DDR-Bürgers letztlich eben
  doch wieder um den deutschen Kommunisten. Früher sollte er ausgegrenzt und
  eliminiert werden, weil er die Machtfrage stellte; heute soll er ausgegrenzt
  und isoliert werden, weil er die Macht hatte. Und letzteres wiegt doppelt
  schwer, zumal damit gerechnet wird, daß sich in diesen 40 Jahren ein
  Potential an antikapitalistischem Bewußtsein entwickelt hat, das nun eben
  nicht mehr nur von Kommunisten repräsentiert wird. Damit gerät vor allem
  auch der sog. »ostdeutsche Intellektuelle« als solcher unter Verdacht und
  Verdikt. Seine »Abwicklung« ist deshalb auch nicht eine Frage »fachlicher
  Qualifikation« oder »fehlenden Bedarfs«, sondern eine Frage der »politischen
  Brauchbarkeit« im Sinne jener Kriterien, die durch eine möglichst ungestörte
  Kapitalakkumulation nun einmal diktiert werden. Nicht auszudenken, wenn sich
  dieses Potential in den sich permanent vertiefenden Krisen der
  kapitalistischen Gesellschaft entfalten würde und man es wieder nötig hätte,
  es in Lagern zu konzentrieren. 
  Wie wir wissen, hat man in der deutschen Bourgeoisie
  dafür schon längst ein Problembewußtsein entwickelt. Wolfgang Richter hat
  in dem von ihm 1993 herausgegebenen 2. Weißbuch den im Frühjahr 1991 in
  Wildbach Kreuth vor Zeugen geäußerten Satz eines westdeutschen
  CDU-Vertreters dokumentiert, in dem es im Blick auf den beabsichtigten Umgang
  mit den Intellektuellen Ostdeutschlands wörtlich heißt: »Wir werden sie
  nicht in Lager sperren, das haben wir nicht nötig. Wir werden sie an den
  sozialen Rand drängen.« (Unfrieden in Deutschland. Wissenschaft und Kultur
  im Beitrittsgebiet, Berlin 1993, S. 7) Schon heute aber hält man es für nötig,
  das antifaschistische Erbe der DDR möglichst restlos zu liquidieren. Wer
  seine politischen Ziele so offen in Analogie zum deutschen Faschismus
  formuliert, wird einen verordneten Antifaschismus unmöglich dulden können.
  In eben dieser Logik gründet auch jene große Rochade, die gegenwärtig mit
  Macht vollzogen wird. Während mit der Gründung der BRD unter Adenauer 1949
  die faschistischen Beamten wieder in den »öffentlichen Dienst« aufgenommen
  wurden, sollen nach der nunmehr vollzogenen Begründung der »deutschen
  Einheit« unter Kohl die Antifaschisten sogar aus dem öffentlichen Bewußtsein
  entfernt werden. Aber wahrscheinlich stimmt das Bild von der Rochade auch gar
  nicht. Unbestritten ist jedenfalls, daß es im Staatsdienst der BRD nach deren
  Gründung prozentual mehr NSDAP-Mitglieder gab als zu Zeiten des »Deutschen
  Reiches« - und daß man sich in dessen Nachfolgestaat heute schon sehr
  anstrengen muß, um noch Straßen, Schulen und Plätze zu finden, die die
  Namen deutscher Antifaschisten und Kommunisten tragen, von Kasernen, die
  ohnehin eher für Hitlers Generale stehen, einmal völlig abgesehen. 
  »Hitlers zweimal getötete Opfer«, so der Titel der
  von Monika Zorn in diesem Jahr herausgegebenen Publikation über die »Westdeutsche
  Endlösung des Antifaschismus auf dem Gebiet der DDR«. Eine Lektüre, nach
  der man darüber doppelt irritiert ist, daß sich der Demontage des
  Kommunisten und Antifaschisten Ernst Thälmann selbst bestimmte Kreise
  innerhalb der PDS angeschlossen zu haben scheinen. Im sog. »Ingolstädter
  Manifest » kommt sein Name jedenfalls nicht mehr vor, was ganz sicher all
  jene gefreut haben wird, die zielstrebig daran arbeiten, die Kommunisten
  innerhalb der PDS zu isolieren und möglichst zu eskamotieren und diese Partei
  auf einen Weg zu schieben, der sie parteipolitisch kompatibel macht. Eine
  Strategie, die man nach den letzten Wahlerfolgen der PDS ganz sicher mit noch
  größerem Nachdruck verfolgen wird. Entsprechende Diskussionen in der SPD und
  bei den Grünen haben das bereits ebenso indiziert wie die vorletzte Ausgabe
  des »Spiegel«, in der Rudolf Augstein die Sache auf den Punkt bringt, wenn
  er davon spricht, daß man die PDS »zu Recht (noch) nicht demokratisch nennen
  kann« (Nr.27/ 4.7.94, S. 26), und in der man denn auch prompt wieder die »Kommunistische
  Plattform« gegen die sog. »Reformer« ausspielt, indem letzteren schmackhaft
  gemacht wird, wie »seriös« und »integrierbar« die PDS doch eigentlich
  werden könnte, wenn sie sich von der KPF trennen würde. Und schließlich sei
  ja auch der Wahlerfolg eine Bestätigung der sog. »Reformpolitik« innerhalb
  der PDS. 
  Gerade dieses aber dürfte am wenigsten zutreffen, wenn
  unter »Reform« die Mutation der PDS in eine linksbürgerliche Partei rechts
  vom ganz linken Rand der SPD gemeint sein sollte. Eine solche »Reformpolitik«
  haben bei den letzten Wahlen ganz gewiß die wenigsten gewählt. Und man müßte
  sich schon sehr verrenken, wenn man behaupten wollte, die PDS habe so viele
  Stimmen bekommen, weil die SPD im Osten eben keinen linken Rand hat und nicht
  einmal zu sagen weiß, worin eigentlich ihre Mitte besteht. Sie hat so viele
  Stimmen bekommen, weil gerade auch durch die Totalabwicklung der DDR eine
  gesellschaftliche Situation entstanden ist, in der höchstens noch
  Opportunismus und Dummheit damit rechnen können, daß im real existierenden
  Kapitalismus die sozialen Insignien einer »zivilisierten Gesellschaft« zu
  finden seien. Die Abwicklung der DDR ist so total und umfassend, daß von ihr
  Menschen ganz unterschiedlicher politischer, sozialer und weltanschaulicher Prägung
  gleichermaßen betroffen sind. Selbst wenn sie sich im Blick auf ihre
  DDR-Vergangenheit keinerlei Gemeinsamkeit konzedieren würden, seit dem 3.
  Oktober 1990 wächst eben zusammen, was zusammengehört. Für einen derart
  populistischen Satz müßte ich mich jetzt eigentlich entschuldigen. Aber
  warum sollten wir ihn eigentlich jenen überlassen, die mit ihm nicht einmal
  recht haben. Er ließe sich im Blick auf den Wahlerfolg der PDS freilich auch
  viel nüchterner übersetzen, denn die PDS ist von ihren Wählern nicht gewählt
  worden, obwohl Sarah Wagenknecht zum Parteivorstand gehört oder weil Andre
  Brie das Wahlbüro leitet, sondern weil ein Bewußtsein dafür gewachsen ist,
  daß die außergewöhnliche Situation ein außergewöhnliches Maß an
  Gemeinsamkeit abfordert, das selbst außergewöhnlich konträre Positionen überbietet.
  Dem Wähler der PDS war jedenfalls bewußt, wer seine Stimme dieser Partei
  gibt, der gibt sie auch den Kommunisten in dieser Partei, für die eben gerade
  auch ein Ernst Thälmann zur Traditionsgeschichte gehört. Insofern ist die
  Frage nach dem Umgang mit den deutschen Kommunisten seitens dieser Wähler
  bereits beantwortet worden. Und vielleicht ist das sogar das Spektakulärste
  an diesem Wahlergebnis, das ja damit zugleich bestätigt, daß die politisch
  gebotene Reaktion auf die Totalabwicklung der DDR nicht getrennt werden kann
  von dem heute gebotenen Umgang mit Kommunisten. In Bonn jedenfalls sieht man
  das seitenverkehrt genauso. 
  
 
  
Marginalie zu André Brie 
  [in: Neues Deutschland, 12./13.12.1992, S.
  10] 
  Ich hätte nicht zur Feder gegriffen, aber diese
  Kolumne von André Brie im ND vom 28./29. November und dann auch noch eine
  solche Advents-Beilage von Herrn Konrad Weiß - das nenne ich Nötigung. Wer
  will mich eigentlich so penetrant zwingen, das ND abzubestellen und lieber
  gleich zur FAZ zu greifen? A.B. jedenfalls würde doch offenbar einiges darum
  geben, in der FAZ beerdigt zu werden, vorausgesetzt, er dürfte die Grabrede
  selber schreiben. Dazu hätte er das Niveau, denn schließlich kann er etwas
  mit den »demokratischen Universalien« der Cora Stephan anfangen. Von
  jemandem, der an Peter Glotz »zur Erkenntnis zu kommen« begann und also in
  einer höchst intimen politisch-intellektuellen Nähe zu einem der »interessantesten
  sozialdemokratischen Querdenker« siedelt, kann man das auch erwarten. Es soll
  aber auch Leute geben, selbst in der PDS, die sind nicht an P.G., sondern an
  Umberto Ecco »zur Erkenntnis« gekommen. Der hat es nämlich in »Der Name
  der Rose« vermocht, den mittelalterlichen »Universalienstreit« so plausibel
  zu machen, daß er nun nachgerade zur Allgemeinbildung gehört. Man muß jetzt
  also weder Theolog noch Philosopher sein, um wenigstens dieses zu wissen: der
  Streit geht gar nicht darum, ob es (demokratische) Universalien gibt oder
  geben muß. Da waren und da sind sich alle einig: die gibt es. Aber:
  universalia  ante oder  post res - das war, das ist die Frage! Gerade und vor
  allem auch, wenn es um »demokratische« geht. Im Klartext: Kann es einen
  allgemeinen Demokratie-Begriff geben, der vor (ante) jedweder
  historisch-konkreten Definition von Demokratie liegt - oder ist nicht vielmehr
  der Allgemeinbegriff »Demokratie« nur denkbar als Folge (post) konkret
  definierter Verhältnisse?! A.B. hält es offensichtlich mit dem  ante der
  verwirrenderweise als Realisten Bezeichneten. Das ist durchaus auch opportun,
  denn die sog. Nominalisten, die es mit dem  post hielten, galten/gelten als
  Ketzer - jedenfalls in der »offiziellen Gesellschaft«. Wer will das schon?!
  A.B. ganz gewiß nicht. Und so stimmt er denn Frau Stephan auch ganz ungeniert
  zu: jawohl, für »einen Teil der Linken, auch die SED,« trifft das »letztlich
  zu« - sie sind bzw. waren »der Feind der Demokratie«. Und weil A.B. eben
  ein »Realist« sein möchte, braucht er nun auch nicht mehr zu erklären, was
  er unter »Demokratie« verstanden wissen möchte. Ist »Demokratie« ein
  gesellschaftlicher Zustand, den man alle vier Jahre bekommen kann, wenn man
  sich an der Wahlurne zwischen 4 bis 5 kapitaltragenden Parteien entscheiden
  darf? Oder ist »Demokratie« eher eine »Universalie« zur Bezeichnung
  gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen vielleicht nicht im traditionellen
  Sinne »gewählt«, dafür aber in jener sozialen Sicherheit gelebt werden
  kann, die offensichtlich erst nach ihrem Ableben die dialektische Differenz
  zwischen Bürgerfreiheiten und Menschenrechten massenhaft ins Bewußtsein
  treten läßt - und das nicht nur bei den Millionen Menschenrechtslosen
  deutscher Provenienz? Oder ist »Demokratie« lediglich eine historisch
  gewachsene Herrschaftsform der Bourgeoisie? Dann allerdings hätte A.B. selbst
  hierin unrecht: nicht »die Linke«, das Bürgertum hat »mehr für
  demokratische Verhältnisse gefochten...als jede andere politische Strömung«!
  - Für den extremen mittelalterlichen Realismus erhöhte sich die Realität
  der universalia mit zunehmendem Abstand von den konkreten Einzeldingen. Eine für
  A.B. offensichtlich ideale Voraussetzung politischen Denkens. Denn wenn »Demokratie«
  nicht mehr konkret definiert zu werden braucht, dann läßt es sich prächtig
  reden über die »demokratische Austragung« und »Gestaltung« der Widersprüche
  des weltweit herrschenden Kapitalismus. Der Nominalismus freilich hätte das -
  mutatis mutandis - als bloße Rhetorik bezeichnet - wenn er freundlich gewesen
  wäre. 
  
 
  
Marginalie zu Wolfgang Gehrcke 
  [in: Neues Deutschland, 17./18.4.1993, S.
  10] 
  Die Politik lebt immer von beidem: von der ergriffenen
  Gelegenheit und von der verpaßten
  Chance. Und nicht nur für den Historiker ist es interessant herauszufinden,
  ob denn nun wirklich Chancen bestanden, und warum gute Gelegenheiten vertan
  wurden. 
  Wolfgang Gehrcke hatte die nun wirklich sehr gute
  Gelegenheit, in seiner ND-Kolumne vom 10./11. April ein Wort zum Ostermarsch
  zu sagen. Wenn schon nicht ein marschweisendes, so doch aber wenigstens ein
  Beiwort, das wenigstens in einem Nebensatz wenigstens auf die brennendsten
  Themen der diesjährigen Demonstrationen hätte eingehen können. Statt dessen
  hat Gehrcke die Chance ergriffen, diese Gelegenheit auszuschlagen und lieber
  einen Ausflug in die Vergangenheit zu machen. Der (leicht überzeichnete)
  Skopus seiner historischen Reminiszenz: 1968 hätte es zur Weltrevolution
  kommen können, wenn dieses nicht
  vom Warschauer Vertrag verhindert worden wäre. 
  Mit dieser Altlast im Gepäck wird fortan jeder
  Ostermarsch nur noch ein Canossa. Es sei denn, der Pilger findet zur Kantschen
  Fähigkeit zurück, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu
  bedienen. Dann mag er möglicherweise noch immer keine Antwort auf die Frage
  finden, ob der Einmarsch in die CSSR politisch notwendig war. Aber daß der »Prager
  Frühling eine der möglichen Antworten« auf den sich auch im Osten
  herausbildenden neuen Produktionstyp der wissenschaftlich-technischen
  Revolution gewesen sein soll, das wird er höchstens noch heimlich glauben können,
  nachdem er so unheimlich deutlich zusehen mußte, wie ein Gorbatschow unter
  Berufung auf Dubcek (!) den Sozialismus abschaffte und ein Dubcek in die
  Politik zurückkehrte, nachdem die »Perestroika« vollendet war. 
  Gehrcke aber fordert nicht nur diesen Glaubenssatz ab.
  Er will (warum eigentlich?) auch glauben machen, daß die bundesdeutschen »Achtundsechziger«
  die damalige BRD »in den Grundfesten« erschüttert hätten - als sei eine »Rebellion«
  schon eine Revolution. Doch die Konklusion ist durchaus einprägsam: wären
  die Russen nicht nach Prag marschiert, könnten die Bonner heute nicht nach
  Berlin umziehen. 
  Glaubenssätze lassen sich nicht theoretisch entfalten.
  Vielleicht mußte Gehrcke dem Leser auch deshalb einen systematischen Zugang
  zu dem von ihm entworfenen Szenarium schuldig bleiben. Mit politischer Theorie
  hat es jedenfalls wenig zu tun, wenn Dutschkes Forderung nach »Produzentendemokratie«
  abgeleitet wird von dem Erfordernis veränderter gesellschaftlicher
  Rahmenbedingungen für einen »neuen Produktionstyp« und wenn diese »Produzentendemokratie«
  gleichzeitig zur »Bewegungsform der wissenschaftlich-technischen Revolution«
  erklärt wird. Es sei denn, Gehrcke meinte schon 1968 etwas ganz anderes als
  Dutschke. 
  Was »Produzentendemokratie« auch immer bedeuten mag -
  wenn es im Zusammenhang mit ihr letztlich doch nur um die »Konzeption
  kapitalistischer Modernisierung« ging, dann läßt sich freilich verstehen,
  warum Gehrcke den wichtigsten Erfolg der »Achtundsechziger« darin sieht, daß
  sie »den Übergang zu zwanzig Jahren sozialdemokratisch geführter Politik«
  brachten. Und verstehen läßt sich dann auch, warum Gehrcke Dubcek noch immer
  für einen 68er hält. 
  
 
  
Glosse zu Dietmar Keller 
  [in:
  Dietmar Keller, Matthias Kirchner (Hg.): Zwischen den Stühlen. Pro und Kontra
  SED, Dietz Verlag, Berlin 1993, S. 103-105] 
  Mein liebes ND! 
  Wie soll ich Dir nur danken für die Dokumentation des Dr.D.K.,
  MdB, v.d.E.-K.d.d.B. vom 1.3., S. 11: »Die
  historische Wahrheit zwischen den deutschen Stühlen«. Allein schon
  dieser fäkale Titelbalken ersetzt einen Besuch in der »Distel«. Und dann
  erst die verborgene Story! Da war einmal ein Mann. Der wollte gern ein Herr
  werden. Da ließ er sich verführen und ward ein stellvertretender Herr Mi...ster. 
  Herr M hatte es gut. In seinem Mi...sterium saß er
  immer nur ganz stumm herum. Und wenn er schon einmal telephonierte, dann nur mit seiner stellv. Frau M.. Zwei- bis dreimal am Tag sagte er ihr mit unverstellter
  Stimme, daß und wann er heimlich nach
  Hause kommen würde. Mann konnte ja nie wissen. Er selbst wußte auch kaum
  etwas. Er hatte nicht einmal Ahnungen,
  wie er v.d.E.-K.d.d.B. gestand,
  obgleich er auf diesem Gebiet studiert
  war. Statt Bücher von Deckel zu Deckel zu lesen, ging er lieber ganz unorganisiert
  in Kneipen. Dort dachte er gleich.
  Bis an existentielle Fragen ging es! 
  Nach gedachter Arbeit ließ er sich erzählen, daß »in
  jedem theologischen Seminar« das »gesamte«
  »Kapital« gelesen werde. Er rechnete nicht nach (pro Semester ca. 12
  Seminare x 2 x 9 theologische Ausbildungsstätten = 216 Gesamtlesungen im
  Jahr). Dafür errechnete er Karriere-Gleichungen mit mehreren Unbekannten.
  Z.B.: Was passiert, wenn man »zum
  falschen Zeitpunkt am falschen Ort falsch gehandelt hat«? Die richtige
  Antwort muß lauten: Nichts, denn es ist zu unübersichtlich. Es passiert nur
  etwas, wenn man zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort richtig gehandelt hat,
  bzw. wenn es sich um das falsche tempus auf dem Wege zu einem richtigen locus
  handelt. 
  Als ein echt
  zivilisatorischer Charakter wollte er um keinen Preis mit den einfachsten Mitteln gebildet
  werden. Dann lieber gar nicht, dachte er wohl. Und mein Deutsch versteht
  ohnehin jeder, der einmal ins bewußte
  politische Leben getreten ist. Und Lamberz ist schon absolut lange tot. Ob wenigstens der jesuitischen Intellekt hatte? Jedenfalls hat er nicht stalinistisch
  gefühlt! 
  Ach, ich danke Dir, mein liebes ND, daß Du mir mit
  dieser Dokumentation endlich die Augen geöffnet hast. Weniger über Dr.D.K.,MdB,
  der sich endlich offenbart hat, in
  seiner ehemaligen Partei ein Verhältnis
  gehabt zu haben, zudem ein wahnsinnig
  opportunistisches. Unmoralisch ist das ja nur, wenn man dem Verhältnis
  untreu wird, bloß weil der Mann die Parteifronten wechselt. Viel
  beeindruckender ist ja das wirklich Beeindruckende: die DDR hat tatsächlich
  40 Jahre lang bestanden, obwohl sie solche Mi...ster hatte. 
  _______________________ 
  Sehr geehrter Herr Dr. Keller, 
  für Ihren auch an mich adressierten Rundbrief bedanke
  ich mich. Selbstverständlich stelle ich Ihnen meinen für das ND bestimmten
  Beitrag zur Verfügung, vorausgesetzt natürlich, daß Sie ihn ungekürzt
  publizieren. Die von Ihnen geplante Broschüre hätte ohnehin nur dann einen
  übergreifenden und untendenziösen Sinn, wenn Sie sämtliche
  Zuschriften unzensiert und also ohne Kürzungen abdruckten. Woher wollen
  Sie wissen, was »für die Leser interessant sein dürfte«, wenn Sie doch
  schon jetzt wissen, daß die Interessen vieler Leser mit Ihren Interessen
  nicht koinzidieren? Und wer sagt Ihnen, daß nicht gerade auch die
  argumentative Übereinstimmung in der Kritik an Ihrer Rede von höchstem
  Interesse sein könnte? Mit einer Selektion würden Sie sich jedenfalls keinen
  guten Dienst erweisen, zumal Sie mit der Broschüre ohnehin in den Verdacht
  kommen werden, ein Kapitelchen Selbstrechtfertigung schreiben lassen zu
  wollen. 
  Ich bin mir allerdings gar nicht sicher, ob Sie für
  meinen Beitrag überhaupt Verwendung finden können, denn ich habe durchaus
  keinen »interessanten Leserbrief« geschrieben, sondern eine satirische
  Glosse für den BLATTSCH(L)USS. Zu einem »interessanten Leserbrief« war ich
  unmittelbar nach der Lektüre Ihrer Rede gar nicht in der Lage. Dafür standen
  mir, um es in der Diktion freier Rede zu sagen, viel zu viele Haare zu Berge.
  Und noch heute fällt es mir schwer, mich mit Ihrem Votum emotionslos
  auseinanderzusetzen. Ich möchte Sie wirklich nicht kränken oder gar
  beleidigen, aber ich muß es wenigstens einmal so sagen dürfen: ich fand Ihre
  Rede einfach peinlich. Weniger wegen der von Ihnen veröffentlichten
  Halbbildung, die wahrscheinlich auch nicht so heftige Reaktionen provoziert hätte,
  wenn Sie mit ihrer Verallgemeinerung zurückhaltender gewesen wären und
  wenigstens offen eingestanden hätten, für historische Perspektiven keinerlei
  Verständnis aufbringen zu können. Letzteres wäre in der deutschen
  Geschichte ja nicht einmal eine Schande, wo doch selbst ein Schopenhauer
  nichts mit Hegel anzufangen wußte. 
  Wirklich peinlich berührt hat mich vielmehr Ihre zur
  Schau getragene »Opfer«-Attitüde, bei der ich eigentlich nur noch die
  Behauptung vermisse, die Thesen Ihrer Dissertation wären unter dem Druck
  eines angedrohten Karriereknicks formuliert worden. Aber es ist für einen
  Stellv. Kulturminister a.D. schon geschmacklos genug, sich als »Verführter«
  zu präsentieren - und das auch noch ausgerechnet unter Berufung auf Brecht
  & Company. Das nimmt Ihnen leider jegliche Glaubwürdigkeit. 
  Sie werden nun gewiß sagen, ich schlage hier einen Ton
  an, von dem Sie glaubten, »daß er in unserer Partei nicht mehr zu finden sei«.
  Ich gehöre aber weder der PDS an, noch war ich je Mitglied irgendeiner
  anderen Partei. Ich war lediglich ein DDR-Bürger, der allerdings nach wie vor
  zu der Tatsache steht, daß die DDR der »bessere« deutsche Staat gewesen
  ist, auch wenn in ihm ein Stellv. Kulturminister nur die Direktiven eines
  Politbüros umzusetzen hatte - was ja insgesamt weniger kulturunverträglich
  war als die Umsetzung der kulturlosen Interessen deutscher Banken durch die »politische
  Klasse« der BRD. 
  Sehr geehrter Herr Dr. Keller, Ihr Brief hat mich
  glauben gemacht, Ihnen gegenüber ein offenes Wort schuldig zu sein, denn es
  geht nicht nur darum, »den Mantel des Schweigens über unsere(r) Geschichte«,
  sondern ebenso auch über unserer Gegenwart »zu lüften«. Ich gestatte Ihnen
  also auch sehr gern, diesen Brief in Ihre Dokumentation (ungekürzt)
  aufzunehmen, und bin sehr gespannt, ob Sie sich dazu entschließen können. 
  Mit freundlichen Grüßen 
  
 
  
Polemik contra Michael Brie 
  [in: Neues Deutschland, 18./19.12.1993, S.
  10] 
  Der gewaltfreie
  Diskurs ist eine Fiktion. Wer sich heute über den Sozialismus von gestern
  äußert, der ist gezwungen, wenigstens in einem Nebensatz zu bestätigen, daß
  da tatsächlich vieles im argen lag. Nun hat Heinz Jung in seinem
  ND-Forum-Beitrag vom 4./5.12.93 sogar grundsätzliche Fehlentwicklungen
  benannt - und dennoch hat Michael Brie ihn im ND vom 11./12.12.93 der
  unbelehrten Unwissenheit geziehen. Legt man beide Texte zur Synopse, dann überrascht
  das freilich nicht, denn was Jung unter dem Reizwort »Gorbatschowismus«
  charakterisiert, ist weitgehend identisch mit dem, was Brie in seinen Thesen
  formuliert. Zudem belegt Brie mit seiner Replik Jungs Feststellung, daß
  dieser »G.ismus« nicht Ausdruck einer qualifizierten Theorie, sondern
  lediglich eine bestimmte »politische Verhaltensrichtung« (gewesen) ist. 
  Diese Richtung hat nun Brie in nachgerade
  atemberaubender Offenheit beschrieben und damit offiziell bestätigt, was
  bisher immer noch als üble Nachrede gelten konnte: Auch in der DDR war es (un/erklärtes)
  Ziel der sog. »Reformkräfte innerhalb der SED«, den Sozialismus zu
  guillotinieren, denn, so die jetzt nachgereichte magere (Selbst-)Rechtfertigung:
  der Sozialismus sei halt »nicht mehr verteidigungswert« gewesen. 
  Abgesehen davon, daß Bries Offenbarungseifer unter all
  jenen lebhafte Diskussionen auslösen dürfte, die sich noch heute mit
  Parteistolz als »Reformer« bezeichnen - die »Aufarbeitung« des DDR-Finale
  wird sich von nun an auch der spannenden Frage stellen müssen, wer hier wem
  eigentlich zugearbeitet hat. 
  Brie hat - nach eigener Aussage - natürlich nur der
  Geschichte zugearbeitet, die nach der »Selbstaufhebung« (!) des Sozialismus
  endlich »wieder möglich geworden« (!) sei. Ob er ausreichend Gelegenheit
  haben wird, den Dank der Geschichte entgegenzunehmen, nachdem nun selbst der
  Faschismus wieder eine geschichtliche Möglichkeit geworden ist, ist ja
  offensichtlich eine völlig irrelevante Frage. Jedenfalls wird man seiner
  Sorge um die Unantastbarkeit des »Unternehmertums« schon irgendwie gedenken,
  auch seiner aufrichtigen Absage an die sog. »Fundamentalalternative« und des
  damit ja wohl verbundenen Verzichts auf das für Politiker und Wissenschaftler
  gleichermaßen unverzichtbare Prinzip, in Grundsätzen und grundsätzlich auch
  in Alternativen zu denken. 
  Doch hier kommt nun wirklich alles durcheinander, denn
  auch M. Brie hat ja eigentlich Grundsätze - z.B. den, daß es zum
  Kapitalismus keine Alternative gibt, höchsten die Möglichkeit, ihn einfach
  anders zu benennen. Aber selbst damit wäre die Geschichte schließlich doch
  wieder nur in eben jener »Sackgasse«, aus der sie mit den vereinigten Kräften
  aus West und Ost und nach Ansicht von M. Brie gerade erst herausgeholt worden
  ist. Aber was tut’s. Wahrscheinlich sind nicht alle »Sackgassen« gleich.
  Dazu aber hat sich M. Brie bezeichnenderweise ebensowenig geäußert wie zu
  der Frage, warum wohl der Sozialismus »moralisch« »nicht mehr überlebensfähig«
  gewesen sein soll, wenn doch der Kapitalismus in seiner strukturellen Amoralität
  furchtbar lebendig bleiben konnte. 
  
 
  
Eine Rezension 
[in: Neues Deutschland, 5. bis 10.10.1994 
(Beilage zur Frankfurter Buchmesse 1994), S. 9] 
  Monika Deutz-Schröder/Jochen Staadt (Hrsg.): Teurer 
  Genosse! Briefe an Erich Honecker, TRANSIT Buchverlag, Berlin 1994, 157 S., 
  kart., 28,- DM  
Nun ist die DDR im Nachhinein doch noch zu 
einem Schlaraffenland geworden, jedenfalls für Historiker und solche, die sich 
dafür halten. Man braucht nur in irgendein Archiv zu gehen und irgendwelche 
Akten zu ziehen und irgendwo einen Verlag zu finden - und schon ist die 
Bibliographie um eine Nummer reicher und man selbst natürlich auch ein bißchen. 
Doch wenn man nicht aufpaßt, dann kann es einem ergehen wie den Herausgebern des 
vorliegenden Bändchens, die sich vor lauter Eifer selber ad absurdum geführt 
haben. Und so geht es den beiden Mitarbeitern vom "Forschungsverbund 
'SED-Staat'" an der Westberliner Freien Universität auf ihre Weise, wie es E.H. 
auf seine Weise erging: zum Schluß kommt eben doch etwas ganz anderes heraus. 
Als E.H. mit bayrischem Milliardenkredit 
der DDR Bestes zu suchen gedachte, beschleunigte auch er eine Entwicklung, an 
deren Ende die Abwicklung stand. Die beiden Hrsg. hingegen wollen erklärtermaßen 
gerade das schlechthin Schlechteste an der DDR zu zeigen versuchen: "den Alltag 
im Zentrum der Diktatur" "mit seinen bürokratischen Abgründen" und der "banalen 
Boshaftigkeit" (S.7). Doch siehe da: herausgekommen ist eine kleine 
Dokumentation, deren Einband eher an ein sozialistisches Poesiealbum erinnert 
und so gar keine Schwarzbuch-Assoziationen freisetzt. Womöglich ein ganz 
raffinierter Effekt, der auf Makabres aus ist und auf Verwirrung setzt? Außen 
hui und innen pfui? Vielleicht, aber es funktioniert nicht, denn auch innen ist 
das Bändchen gar nicht so übel, wie es die Hrsg. im Vorwort suggerieren wollen. 
Immerhin konnten sie unter 2 Millionen 
Briefen auswählen, aber so viele haben sie ganz gewiß nicht einmal sortieren 
können. Doch das, was sie schließlich und mehr oder weniger zufällig drucken 
ließen, widerlegt eigentlich ihre These von der bösen DDR und dem noch böseren 
E.H.. Gemessen an dem, was der Zugang zu den wohlweislich sehr fest 
verschlossenen Archiven bundesdeutscher Kanzler an Skandalösem zu Tage fördern 
würde, lesen sich die Schreiben an E.H. eher wie Briefe aus der Provinz. Manches 
(und durchaus nicht nur das Kleinkarierte) hätte - mutatis mutandis - auch in 
Bonn diktiert worden sein können, und anderes wäre dort weit weniger harmlos 
ausgefallen. Doch was man in Bonner Ablagen nun wirklich nicht finden wird: 
Briefe, die jene Selbstverständlichkeit dokumentieren, mit der im 
DDR-Sozialismus Bürger davon ausgingen, zur Lösung ihrer sozialen und 
kulturellen Probleme den Staat in Anspruch nehmen zu können. Schon nach 4 Jahren 
"deutscher Einheit" wirken sie tatsächlich wie aus einer "anderen Welt", und in 
20 Jahren wird man sie womöglich für Fälschungen halten. 
Die Ironie dieser Geschichte will es 
offensichtlich so: es bleibt eigentlich nur, den Hrsg. zu danken. Sie wollten 
zwar zeigen, wie schrecklich die "SED-Diktatur" gewesen ist, doch herausgekommen 
ist ein Bändchen, das man nicht gleich kaufen muß, weil es sich in 20 Jahren 
sicher noch besser liest als heute. 
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Vom Kopf auf die Füße stellen... 
  [in:
  Neues Deutschland, 13./14.3.1993, S. 1] 
  Friedrich Engels konnte nicht wissen, daß er am Grabe
  von Karl Marx ein understatement formuliert hatte. Marx war nicht nur der »bestgehaßte
  und bestverleumdete Mann seiner Zeit«. Er ist es weit über seine Zeit hinaus
  geblieben. Und am 110. Todestag muß nun gar resümiert werden: in diesen
  Zeiten ist er es noch immer, geradezu beispiellos. Der europäische
  Sozialismus ist zwar liquidiert, doch für Marx gibt es keine Amnestie. 
  Das hat durchaus auch seine Gründe, wiewohl die kaum
  auf gutem Grund gewachsen sind. Aber plausibel ist das schon: Marx hat
  klassischen Hochverrat begangen - zudem nicht nur an seiner deutschen
  Herrschaft, sondern am internationalen Kapital. Das bleibt für alle Zeiten
  ein Kapitalverbrechen. Jedenfalls wird es nicht verjähren, solange die
  Kapitalgesellschaft auch davon lebt, daß niemand verrät, wovon sie
  eigentlich lebt. 
  Ein uralter Vorbehalt. Schon Platon wußte um die
  ungeheuerliche Macht des konstitutionellen Staatsgeheimnisses: Die Herrschaft
  der aristokratischen Polis habe nur Bestand, solange keiner ihrer Bewohner in
  Erfahrung bringen könne, von wem er eigentlich geboren wurde. Der Aristokrat
  Platon wußte, was das sollte: Wer weder Vater noch Mutter kennt, der wird in
  dem Staat seines Königs etwas naturgemäß Gegebenes erblicken und natürlich
  unbedingt loyal und staatstreu sein. 
  Es ist ein (offensichtlich unkorrigierbarer) Irrtum,
  Platons »Politeia« als Geburtsstunde der »kommunistischen Utopie« zu
  feiern. Und es ist ebenso ein Irrtum zu meinen, das Prinzip seiner Politik gehöre
  lediglich der Antike an. Hätte Marx nicht ein Staatsgeheimnis verraten, keine
  nach ihm benannte Straße müßte heute wieder Königsnamen tragen. Aber der
  Verrat wiegt zu schwer. Vergleichbar dem unverzeihlichen Frevel in Platons »Politeia«:
  Wehe dem, der in Erfahrung bringt, daß die Polis nicht naturgemäß gegeben
  ist, nicht unwandelbar in ihrer Herrschaftsform. Und wehe dem, der das
  Geheimnis des Mehrwerts lüftet und das Bewegungsgesetz der Bürgergesellschaft
  entdeckt und dieses nicht für sich behält, sondern auch noch unter diese
  Massen bringt. 
  Nichts ist destabilisierender als ein Bewegungsgesetz
  und die Erkenntnis, die sich mit ihm organisiert. Selbst wenn die Organisation
  zerschlagen ist, das Gesetz bleibt. Und es bleibt gefährlich, weil es für
  neue Erkenntnis offen bleibt - und also auch für neue Organisation. 
  Und deshalb muß Marx präventiv denunziert bleiben.
  Allein schon dieses verhindert im Vorfeld so manche Erkenntnis, die an die
  Wurzel gehen könnte. Das klerikale Veto des Mittelalters gegen die Radikalität
  der Naturwissenschaft prolongiert sich in dem militanten Kapitalprotest gegen
  eine radikale und also auf das Wesen zielende Gesellschaftswissenschaft. Nicht
  nur für Konzerne, Banken und Versicherungen gehört das »Betriebsgeheimnis«
  zu den Rahmenbedingungen einer profitablen Existenz. Die Bürgergesellschaft
  als solche steht unter Verschluß. Wer ihr »Betriebsgeheimnis« lüftet und
  verrät, dem wird der Prozeß gemacht. 
  Natürlich handelt es sich dabei um Notwehr. Wenn das
  Wesen einer Wohnung nicht mehr darin besteht, daß Menschen in ihr wohnen,
  sondern an ihr verdienen; wenn die Krankheit der einen zur Quelle des
  Reichtums der anderen wird; wenn Arbeitslosigkeit die Profitrate steigert;
  wenn der Wohlstand sich am Elend nährt und die Politik nicht der Polis,
  sondern der kapitalen Aristokratie verpflichtet ist... - dann kann ja gar
  nicht zugelassen werden, daß eine politische Wissenschaft ernsthaft nach dem
  Wesen hinter der Erscheinung fragt. Wenn die Anarchie des »Marktes« die
  Verfassung der Gesellschaft bestimmt und buchstäblich alles zur käuflichen
  Ware wird (einschließlich Leib und Seele!), dann hat schon der als »Radikalist«
  zu gelten, der allein auf diesen Sachverhalt verweist und eigentlich nur
  recherchieren wollte. 
  Die einst maßgeblich vom Bürgertum getragene europäische
  Aufklärung hat in der verbürgerlichten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts
  ihren ärgsten Feind. Und Marx muß auch deshalb tabuisiert werden, weil sein
  Name nicht nur für eine proletarische Bewegung steht, sondern zugleich das
  herausfordernde Erbe der Aufklärung repräsentiert. 
  Der Kampf der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert
  galt der falschen Wahrheit. Heute aber geht es um die reine Unwahrheit. Das »Betriebsgeheimnis«
  der Kapitalgesellschaft darf nicht gelüftet werden, weil die Lüge zum System
  gehört wie die (verlogene) Werbung zum Produkt. 
  Die Perversion ist total und grundsätzlich: Parteien
  nennen sich »christlich« und sind doch das reine Gegenteil; Arbeitnehmer
  nennen sich »Arbeitgeber«, und Arbeitgeber müssen sich als »Arbeitnehmer«
  bezeichnen; man sagt »Entwicklungshilfe« und meint neokoloniale Abhängigkeit;
  man spricht von der »gewachsenen Verantwortung Deutschlands gegenüber der Völkergemeinschaft«
  und meint eine neue deutsche Hegemonie; der »Blauhelm« ist ein Stahlhelm,
  der »Solidarpakt« eine Verhöhnung der Solidarität: »es kann nicht länger
  geduldet werden, daß die Sozialhilfeempfänger die Gesellschaft ausbeuten«... 
  »Aufklärung« ist am Ende des 20. Jahrhunderts noch
  immer eine epochale Kategorie, auch wenn es zunächst nur darum geht, die
  Wahrheit vom Kopf auf die Füße zu stellen.  
  
 
  
Marxismus-Leninismus in der DDR 
  [in: Neues Deutschland, 27./28.2.1993, S.
  10] 
  Da ist von »Religion« die Rede, vom »Sündenfall«,
  auch vom »Beschneidungsfest«; der »Katechismus« wird erwähnt, neben der
  »Gebetstrommel« und der »Orgelstunde«; »mythische und biblische Themen«
  kommen in den Blick; sogar der »Antichrist« wird aufgeboten. Und dabei geht
  es gar nicht um »Religionsunterricht«, wiewohl auch der im Text zu finden
  ist. Es geht in Reinhard Moceks ND-Artikel vom 16.2.93 (S.10) um den »Marxismus-Leninismus
  in der DDR...«. Und Mocek hatte gute Gründe und vielleicht noch bessere
  Motive, diesen Artikel zu schreiben. Ein Grund: herrn eppelmanns »Enquete-Kommission«,
  das ideologische Versatzstück in einer mit Polit-Gauklern inszenierten
  Schmierenkomödie, in der außer den Regisseuren und ihren Assistenten niemand
  mehr etwas zu lachen haben soll. Ein Motiv: die Ermutigung der »Übriggebliebenen«
  (Marxisten) zu einer, wie Mocek es nennt, »öffentlichen theoretischen und
  methodologischen Vergewisserung«. 
  Des Mutes bedarf es da heutzutage durchaus, in diesem
  Land ohnehin. Aber nicht nur Marxisten trifft der Bannstrahl eines Systems,
  das - in typisch deutscher Bürger-Tradition - die Linke nicht zur Nation zählt.
  Es reicht also schon, nicht zu leugnen, bei Marx etwas gelesen zu haben. Auch
  Theologen werden bei »Evaluierungen« von Theologen befragt: »Wie hältst du
  es mit dem M.?« Eigentlich ja eine ganz wichtige Frage! Natürlich kann und
  soll sie, um mit Mocek zu sprechen, zum »Karrierehemmer« werden. Aber wer
  spricht denn heute noch von »Karriere«?! 
  Vergewisserung tut Not, gerade auch, wenn sie
  not-wendig ist. Und Mocek macht es sich nicht leicht mit seinem Veto gegen das
  hämische Verdikt: M/L habe doch auch in der DDR höchstens das Niveau einer
  (endlich überwundenen) Quasi-Religion gehabt. Gewiß, sagt er, gewisse Züge
  gab es da schon. Und als die Ökonomie zu wanken begann und die Planung das
  Chaos zu organisieren hatte, da wurde M/L höchst offiziell zum
  kompensierenden Religionsersatz relegiert. Aber inoffiziell und aufs Ganze
  gesehen blieb M/L eine Wissenschaft, auch wenn sich das Politbüro niemals in
  ihr prüfen ließ. 
  Vieles spricht dafür, daß Mocek mit dieser These von
  der Wahrheit nicht weit entfernt ist. Und nolens volens bekräftigt er mit ihr
  auch Sahra Wagenknechts Opportunismus-Theorie. Aber die ganze Wahrheit ist mit
  dieser These noch nicht eingefangen, denn sie greift im Ansatz zu kurz. Der
  Ansatz aber läßt sich nur finden, wenn man weit genug ausholt. In diesem
  Falle sehr weit. Wir müssen zurück in die Geschichte, denn der Marxismus war
  nun gerade kein archimedischer Punkt
  jenseits und außerhalb des irdischen Geschehens. Engels hat bekanntlich noch
  am Grabe von Karl Marx vor diesem faszinierenden Mißverständnis gewarnt: Wäre
  Marx 500 Jahre früher geboren worden, er hätte vielleicht auch Karl geheißen
  - aber das »Manifest« hätte er ebensowenig schreiben können wie das »Kapital«. 
  Kapital gab es 1318 nämlich noch gar nicht und auch
  keine Arbeiterklasse. Wohl aber eine Weltkirche, die gerade auch in ihrer »babylonischen
  Gefangenschaft« das blieb, was sie unter Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert
  geworden war: die offizielle Nachfolgerin der heidnischen
  Tempelpriesterschaft. 
  Diese aber hatte eine Aufgabe von staatspolitisch
  allererster Bedeutung: die Verantwortung für den cultus publicus. In einer von diversen Göttern beherrschten Welt
  war die Religion alles andere als eine Privatsache. Sie war
  Staatsangelegenheit, denn die Götter mußten motiviert werden, innen- und außenpolitisch
  auf die je gewünschte Weise einzugreifen. In den Kriegszügen sollten sie die
  Götter der Feinde besiegen, und im eigenen Lande wurde ihre Macht zur
  Garantie für jenen Herrschaftsanspruch, der sich noch im 19. Jahrhundert mit
  den Insignien des V.G.G. zu legitimieren wußte. 
  Das »Von Gottes Gnaden« entsprang nicht, wie freilich
  schon einige antike Sophisten argwöhnten, der bloßen Cleverness politischer
  Machterhaltung und -entfaltung. Die Götter gab es ja, sozusagen, wirklich.
  Und die Religion als der buchstäblich »geistige Überbau« hatte nicht nur für
  die Polis der Sklavenhalter eine fundamentale Bedeutung. Erst recht war sie in
  ihrer totalitären Gestalt für den Feudalismus die umfassendste
  gesellschaftliche Integrationskraft. 
  Als nach der politisch begründeten Hinrichtung des
  Jesus von Nazareth im Römischen Reich die ersten christlichen Gemeinden
  entstanden, hätten nur besonders böswillige Kritiker unterstellen können,
  daß sie sich im Verlauf der folgenden Jahrhunderte zu einer einflußreichen
  ökumenischen Organisation entwickeln würden, die 380 endgültig in den Rang
  einer Staatskirche erhoben werde sollte. Und als diese Kirche schon unter
  Konstantin d.Gr. die römischen Heidenpriester aus ihrem Amt des cultus
  publicus zu verdrängen begann, konnte niemand damit rechnen, daß dieses
  Amt einmal seine umfassende gesellschaftliche Bedeutung verlieren würde. 
  Es hat sie verloren. Doch waren es nicht die säkularisierten
  Religionskritiker, die ihr diese politische Grundlage entzogen. Vielmehr war
  die Säkularisierung selbst nur das Ergebnis einer gesellschaftlichen
  Entwicklung, in deren Verlauf die gesellschaftsintegrative Funktion von
  Religion und Kirche durch die alles dominierende und konzentrierende und
  strukturierende Macht des Marktes abgelöst wurde. 
  Im 19. Jahrhundert wird definitiv verifizierbar, was
  sich mit der frühkapitalistischen Manufakturwirtschaft vorbereitet: die
  gesellschaftsintegrative Rolle der Kirche geht auf den Markt über. Er wird nun zu dem, was die kapitalistische »Welt im
  Innersten zusammenhält«. Die Kirche behält höchstens noch Einfluß, nicht
  aber mehr die gesellschaftskonstitutive Funktion des cultus publicus. Und selbst um diesen Einfluß muß sie nun kämpfen,
  denn der Markt bedarf ihrer nicht.
  Zwar nimmt er noch dankbar die theologische Sanktionierung der Markt-Wirtschaft
  entgegen und finanziert den »Freiraum«
  auch des kirchlich-religiösen Lebens, doch die einst so fundamentale
  Integrationsfunktion des Kultes wird nur noch dann beschworen, wenn die
  Allmacht des Marktes an ihre Grenzen
  stößt und Grenzen gerade überschreiten will. 
  Wurde das Pathos der deutschen Kriegs- und Rüstungspredigt
  im 1.Welteroberungskrieg noch von kulturprotestantischem Klerikalismus und
  episkopalem Chauvinismus getragen, der deutsche Faschismus übernahm für die
  weltweit gesteckten Ziele des deutschen Kapitals die Regie in eigene Hand und
  mobilisierte alles: Klerikalfaschismus und Neuheidentum, Germanenkult und
  Volksreligiosität, Blut- und Boden-Mystik und deutschen Weiheschauer. Und je
  ferner der »Endsieg« rückte, desto lauter wurde Wagner aufgespielt. Götterdämmerung
  auf zerbombtem deutschen Marktplatz. 
  Der Mai 1945 wurde der Monat der beiden deutschen Wege.
  Von Befreiung sprachen nur die
  einen. Die anderen sprachen von der
  Niederlage. Und während die anderen ihren Markt
  neu bestellten, wollten sich die einen auch von dem befreien. Was für ein
  Vorhaben! Selbst Prometheus hätte da gezögert, denn der qualitative Sprung
  von der Markt- in die Plan-Wirtschaft hatte nicht nur die subjektive Dramatik eines salto
  mortale, auch wenn er von historischem Optimismus beflügelt wurde. Hier
  vollzog sich tatsächlich ein evolutionäres Unikat: der Abruch einer durch Jahrhunderte gewachsenen Sozialisationsstruktur. 
  Die real-existierende Dialektik dieses Prozesses, der
  kaum um Übergänge wußte: die
  deutsche Geschichte war auf dem Boden der DDR fortgeschritten und fand sich
  zunächst dort wieder, wo der Feudalismus aufgehört hatte. In diesem Zusammenhang macht das von Hanfried Müller geprägte Wort
  vom »feudalabsolutistischen Sozialismus« tatsächlich Sinn. 
  Die Folgen dieses Prozesses, der in seinem Bereich den
  Ausbruch aus dem Reich der Markt-Mechanismen
  erzwingen mußte: an die vakant gewordene Stelle des bereits als »Naturordnung«
  empfundenen Integrationsprinzips des totalen Marktes trat die entsprechend totalitär wirkende Ordnung der
  ideologischen Integration. Das über Jahrhunderte zum Indikativ gewordene
  Zentrum der kapitalistischen Gesellschaft wurde durch einen weltanschaulichen
  Imperativ besetzt. Und eben damit kam dem Marxismus-Leninismus - z.T. sogar
  detailgetreu - auch jene Funktion zu, die im Feudalismus die Religion
  innehatte. 
  Reinhard Mocek hat also völlig recht: »Der
  Marxismus-Leninismus war Wissenschaft - und auch Katechismus. In so mancher
  Marxistenbrust war beides unauflöslich verbunden.« Aber: dieser dialektische
  Anachronismus läßt sich nicht auflösen, indem man sich nachträglich von
  der »Religion« distanziert, um die Wissenschaft verteidigen zu können. Auch
  im Rückblick wird man nur beides
  haben können, es sei denn man verzichtet bei der angesagten »Vergewisserung«
  auf historische Perspektiven und mithin auch darauf, den Begriff der Religion religionssoziologisch und also wissenschaftlich zu
  thematisieren. 
  
 
  
Macht und Sprache 
  [Ein
  Diskussionsbeitrag für die Konferenz des Marxistischen Forums »Die
  Sozialisten und die Macht heute«, 5./6. Oktober 1996, in: Marxistisches Forum
  Heft 11/12, Januar 1997, S. 25-30] 
  Ich bin angefragt worden, etwas über den Zusammenhang
  von Macht und Sprache vorzutragen. Und leichtsinnigerweise habe ich zugesagt,
  ohne den hohen Anspruch zu bedenken, der sich bei einem solchen Thema aus
  sprachwissenschaftlicher Sicht einstellt. Nun bin ich aber gar kein Philologe
  und muß deshalb zu der Hilfskonstruktion greifen, daß das bei der
  angezeigten Problematik nicht nur ein Nachteil sein muß. Jedenfalls werde ich
  sprachphilosophische, semantische, strukturanalytische oder metalinguistische
  Fragestellungen nicht in den Mittelpunkt stellen - obwohl auch das seinen ganz
  eigenen Reiz hätte, wenn man nur bedenkt, wie alt die Reflexion des Verhältnisses
  von Macht und Sprache ist. 
  Natürlich nicht so alt wie dieses Verhältnis selbst,
  das ja durchaus als ein soziologisches Grundphänomen angesehen werden kann
  und in seiner permanenten Reproduktion gerade auch für die Pädagogik eine
  anhaltende Herausforderung darstellt. Kein Kind erlernt seine Muttersprache
  jenseits der Erfahrung von Macht und Ohnmacht. Dabei geht es nicht nur um die
  sich sprachlich vermittelnden Machtverhältnisse in Familie und Gesellschaft.
  Es geht zugleich auch um die unmittelbare Erfahrung von Sprache als Macht und
  um die Erfahrung von Macht als Sprache. 
  Das läßt sich psychologisch ausleuchten, und es läßt
  sich vor allem auch sprachgeschichtlich untersetzen. Letzteres vorzüglich
  dort, wo der Zusammenhang von Macht und Sprache bewußt reflektiert wird. Und
  das ist in der Antike in all jenen religionsphilosophischen Systemen der Fall,
  die von einem Logos konstituiert und beherrscht werden. 
  Im Deutschen übersetzen wir das griechische »logos«
  mit »Wort«. Und in der Regel fällt dann auch einem guten Marxisten gleich
  der Prolog des Johannes-Evangeliums ein, in dem es in Luthers Übersetzung heißt
  (1,1-3): »Im anfang war das Wort, Und das wort war bey Gott, und Gott war das
  Wort. Das selbige war im anfang bey Gott. Alle ding sind durch dasselbige
  gemacht, und on dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist.« Bekanntlich
  wollte Goethes Faust am Anfang lieber eine »Tat« sehen, weil er »das Wort
  so hoch unmöglich schätzen« konnte. Aber wie schon der in griechischer
  Logos-Terminologie interpretierende Johannes-Prolog zu erkennen gibt: für
  antikes Denken ist »logos« weit mehr als nur ein »Wort«. Es ist eine
  Macht, in der das Wort »tatsächlich« wird. 
  Und nun verkürze ich noch mehr und sage: Hier
  widerspiegelt sich kollektive Erfahrung, die um den Zusammenhang von Sprache
  und Macht weiß - und auch darum, wie umfassend und bestimmend dieser Konnex
  sein kann. Und die Antike hat ja denn auch nicht zufällig ein umfassendes
  Regelwerk der Sprache geschaffen und sich in Grammatik, Poetik und Rhetorik geübt.
  Nicht nur aus reinem Hedonismus und also aus purer Lust an der Ästhetik des
  Wortes, sondern sehr wohl auch mit dem Ziel, über dieses Regelwerk an der
  Macht des Wortes teilhaben zu können. Cicero begann seine politische Karriere
  als Rhetoriker. Und das griechische Theater wollte nicht Zeitvertreib bieten,
  sondern Macht über die Menschen gewinnen, um sie in die Katharsis, in die
  seelische Reinigung führen zu können. 
  Ich belasse es bei diesen
  Andeutungen, die mir aber wichtig sind, weil sie belegen, daß das Thema
  Sprache und Macht eine sehr lange Tradition hat und eigentlich ein
  Menschheitsthema ist. Und als solches sehr wohl auch kompatibel mit der
  Engelsschen Einordnung der Genese der Sprache beim Anteil der Arbeit an der
  Menschwerdung des Affen, wobei Engels den Machtcharakter der Sprache in diesem
  Kontext ja nur in seiner Beziehung auf die Entwicklung kollektiver
  Naturbeherrschung hervorhebt (MEW 20,446ff.). 
  Doch genau hier läßt sich
  anknüpfen und feststellen: Wäre es bei der einfachen Konstellation
  Mensch-contra-Natur geblieben, dann würden wir uns wohl auch heute noch in
  Ellipsen unterhalten. Eine Kommunikationsform, die ja nicht ausgestorben ist,
  sondern in weiten Bereichen der Arbeitswelt ihren Sitz im Leben hat - zumeist
  dort, wo Verständigung ausschließlich der Naturbeherrschung dient, wie etwa
  im Cockpit des Piloten oder auf der multikulturellen Baustelle, ganz zu
  schweigen von der digitalisierten Computersprache, die inzwischen auch schon
  die Syntax unsere Alltagssprache zu unterlaufen beginnt. 
  Wie die Genese der Sprache mit der Naturbeherrschung
  verbunden ist, so ist ihre Entwicklung zu einem komplexen System
  differenzierter Kommunikation verbunden mit der durch Arbeitsteilung eröffneten
  Differenzierung sozialer Verhältnisse, in deren Folge neben die Beherrschung
  der Natur durch den Menschen die Beherrschung des Menschen durch den Menschen
  tritt. Und hier nun schlägt die eigentliche Geburtsstunde des Themas »Sprache
  und Macht«. Fortan nämlich ist Sprache immer auch ein Instrument der
  Eroberung und Verteidigung - nicht ausschließlich, aber in besonderer Weise
  gerade auch der politischen Macht. 
  Das galt natürlich
  auch für den Sozialismus, der den Zusammenhang von Macht und Sprache ja
  keineswegs kaschierte, sondern öffentlich exerzierte - und das nicht nur im
  Blick auf die Uniformierung politisch-ideologischer Sprachregelungen. Wer in
  dieser Hinsicht die Uniform auszog, der konnte sich allerdings sehr rasch in
  den Verdacht bringen, die Machtfrage stellen zu wollen. Und zweifelsohne sind
  in dieser Hinsicht sozialistische Ideale verkommen. Aber - und ich spitze zu
  und frage volkstümlich: was bedeutet für die Sprache schon das Verkommen von
  Idealen gemessen an der Sprache verkommener Ideale. Und die wurde in der Tat
  öffentlich entmachtet und hatte, um mit Thomas Mann zu reden, »das Maul zu
  halten«.  
  Erheblich irrt, wer da glaubt, die politisch-ideologische
  Uniformität sei etwas typisch Realsozialistisches gewesen. Sie ist für den
  real existierenden Kapitalismus nicht minder typisch. Und wenn das womöglich
  doch anders empfunden wird, dann dürfte dieses bereits ein Produkt einer
  Herrschaftssprache sein, die sich nicht weniger flächendeckend, wohl aber
  weit differenzierter und somit auch weit effizienter zu artikulieren weiß. 
  Ich möchte im Folgenden 3 Formen dieser
  Herrschaftssprache herausstellen, ohne sie strikt voneinander abgrenzen zu
  wollen. Denn natürlich sind hier die Grenzen oft fließend und Übergänge
  geschmeidig. Und gerade darin liegt ja auch ein Teil ihrer Wirkung. Aber
  typologisch gesehen, lassen sich durchaus Charakteristika erkennen, die
  beachtet sein wollen, will man ihnen gegenüber Resistenz aufbauen. Und das
  ist um so wichtiger, desto aussichtsloser der Versuch wird, sich dieser
  Herrschaftssprache entziehen zu wollen. 
  Wir alle sind viel zu fest im Griff der Medien, als daß
  wir behaupten dürften, ihrer Wirkung in keiner Weise zu unterliegen.
  Selbstverständlich, wer läßt sich schon vom ”Stern” beeinflussen. Aber
  was passiert, wenn der mit Herrn Andre Brie ein Interview macht, das zum
  Charakter dieser Zeitschrift besser paßt als zum Parteiprogramm der PDS? Man
  führt hernach stundenlange Diskussionen zu einem Thema, von dem man
  eigentlich genau weiß, daß es einem aufgezwungen wurde und womöglich auch
  nur von anderen Themen ablenken sollte! Und zu solchen Debatten gibt es nicht
  einmal eine vernünftige Alternative. 
  Es gehört zur Signatur der sog. »Mediengesellschaft«,
  daß man dem Totalitarismus ihrer kapitalen Medienmacht offensichtlich nicht
  entrinnen kann. Und wenn demnächst dann auch noch das »Neue Deutschland« in
  der Bundesrepublik endgültig »angekommen« sein sollte, wird selbst die
  Illusion einer alternativen Medieninsel immer blasser. Die einzige Folge von
  Heinrich Bölls Demaskierung der »öffentlichen« als einer »veröffentlichten
  Meinung« bestand einst darin, daß in den Redaktionen von Zeitung, Rundfunk
  und Fernsehen Sektkorken knallten und Gehälter erhöht wurden. Was Böll
  denunziert wissen wollte, konnten die Medien als einen Triumph feiern, den
  ihnen heute - als sprichwörtlich gewordene 3. politische Kraft - ohnehin
  keiner mehr nehmen kann, zumal sie nicht mehr nur Meinungen, sondern auch
  immer mehr Markt beherrschen. 
  Da wirkt es eigentlich schon wie Donquichotterie, sich
  gegen Herrschaftssprache immunisieren zu wollen. Aber wenn wir uns schon nicht
  der Macht der Medien entziehen können, sollten wir uns wenigstens darum bemühen,
  die Sprache der Macht transparent zu machen. 
  Zu dieser Herrschaftssprache zähle ich u.a.: 1. die
  instrumentalisierte Sprache des Herrschaftswissens - 2. die Sprache der
  politischen Camouflage - und 3. die Sprache der offenen Demagogie.
  Herrschaftssprache erschöpft sich aber in diesen drei Formen nicht, denn sie
  verfügt über ein breites Repertoire, zu dem nicht zuletzt auch die Zerstörung
  des Denkens durch gezielte Vernichtung der Sprache in Bild-Zeitungen oder
  Computercomics gehört. 
  1. DIE INSTRUMENTALISIERTE
  SPRACHE DES HERRSCHAFTSWISSENS 
  Sie trägt in vielem die Züge
  einer Arkansprache. Die Arkansprache ist, kulturhistorisch gesehen, ein Kind
  alter Kulte, deren religiöse Geheimnisse sorgfältig gehütet wurden. So
  partizipierte lediglich ein Kreis von Auserwählten an einem
  Herrschaftswissen, das in der Kenntnis ganz bestimmter Formeln und Riten
  bestand und dem Eingeweihten eine Macht verlieh, die er nur mit seinesgleichen
  teilen mußte - wie etwa der römische Legionär, dem der Mithras-Kult ewige
  Siege über seinen Gegner verhieß - und nach einer tödlichen Niederlage
  wenigstens eine himmlische Genugtuung. Diese Arkan-Typologie ist aber nicht
  auf die Welt der Religionen beschränkt. Sie entwickelte sich in ganz
  unterschiedlichen sozialen Beziehungen und ist natürlich auch heute überall
  dort zu Hause, wo es in der Sphäre der Sozialität um Machtfragen geht. 
  Die haben bekanntlich sehr
  unterschiedliches Gewicht. Doch ihnen gemeinsam ist die Funktion eines
  Herrschaftswissens, das sich mit Geheimnis umgibt und sich dementsprechend
  artikuliert. Ein ebenso gängiges wie in der Regel auch harmloses Paradigma:
  die sog. »Götter in Weiß«, die ihre Kittel wie Gewänder tragen und ihre
  Visiten wie Messen zelebrieren und vor allem: in einer Sprache reden, die die
  unmittelbar Betroffenen zu Analphabeten degradiert - und die im übrigen recht
  nützliche Glieder der Gesellschaft sind. 
  Weniger harmlos dagegen bestimmte Herren in Schwarz,
  denen zwar auch nachgesagt wird, sehr nützlich zu sein, die ihre
  Existenzberechtigung jedoch nur einem Rechtssystem verdanken, das - aufs Ganze
  gesehen - für den Uneingeweihten unüberschaubar ist und dessen
  Undurchschaubarkeit vorsätzlich kultiviert wurde durch ein Gefüge von
  Sprachregelungen, hinter deren Gebrauchssinn nur der Eingeweihte kommt. Den
  wiederum muß man kennen, und kraft seiner Amtsrobe auch anerkennen. 
  Nach solchen sekundären Herrschaftsinsignien griffen übrigens
  auch Professoren der Humboldt-Universität bei der Semestereröffnung im
  Herbst 1990, um mit ihnen sehr feierlich ins Audimax zu schreiten und dabei
  ganz entschlossen nicht an ihre künftigen Nachfolger von Rhein und Ruhr zu
  denken. Die aber waren schon längst aufgebrochen, das Wissen der neuen
  Herrschaft anzupassen. Wozu sie sich auch berufen fühlten, kamen sie doch in
  die einzigartige Lage, ihre »sog. Kollegen« nicht nur »bewerten« zu dürfen,
  sondern gar »evaluieren« zu können. »Hier offenbart die...Terminologie
  nicht bloß Angeberei, sondern die Entscheidung - auch sprachlich - für ein
  angebliches Herrschaftswissen.« So Hans Mayer in seinem Essay »Sprechen in
  der Wende« in seinem 1993 erschienenen Band »Wendezeiten« (suhrkamp
  taschenbuch 2421, 1995, S. 290) Mayer schreibt dann übrigens weiter: »Bei
  Molièr vergewissert sich der falsche Arzt zunächst darüber, daß der
  Patient kein Latein versteht. Dann legt er los mit ›bonus, bona, bonum...‹.«
  »Evaluierung« - die mit der sog. Wende über die DDR-Deutschen buchstäblich
  hereingebrochene Herrschaftssprache bedient sich eines vielfältigen
  Vokabulars. Es muß ja nicht immer Latein sein. Ein »Sachenrechtbereinigungsgesetz«
  tut’s für manche auch schon. 
  Selbst wenn ich mir dieses noch erklären lassen kann,
  wer aber erklärt mir die Geldsprache der Herren in Nadelstreifen, die wissen,
  wie ihre Börse funktioniert und ihr Banksystem und ihr Aktien- und
  Kapitalmarkt, von dem ich immer nur die Folgen zu spüren bekomme und
  ansonsten an irgendwelche Vermittler verwiesen werde, die mich höchstens
  wissen lassen, daß ich ihnen glauben soll. Und wer erklärt mir, warum ich im
  Fernsehen irgend etwas über einen DAX erfahren muß, dessen wirkliche
  Bedeutung mir aber keiner der Sender erklärt und denen ja auch nicht zu erklären
  braucht, die die Informationen über den Wert ihrer Gelder ohnehin nicht über
  den Fernseher beziehen?! 
  Seit die Banken die Türme selbst der gotischen Dome überragen,
  hat das Bankgeheimnis die Geheimnisse der alten Religionen gesellschaftlich außer
  Kraft gesetzt. Wer heute über Macht verfügen will, der muß zu jenem auserwählten
  Kreis von Eingeweihten gehören, die ein entsprechend großes Bankgeheimnis zu
  hüten haben - die entscheidende Voraussetzung dafür, durch politische
  Formeln und soziale Riten die Strukturen einer vom Geld- und Warenfetischismus
  durchdrungenen Gesellschaft beherrschen zu könne. In dieser Ordnung kommt der
  instrumentalisierten Sprache des Herrschaftswissens eine sehr präzise Rolle
  zu. Sie soll Macht suggerieren und gezielt demonstrieren, ohne dabei die
  Machtmechanismen und ihre möglichen Bruchstellen zu erkennen zu geben. Und
  sie kommt überall dort zu ihren massenpsychologischen Erfolgen, wo sie auf
  die volkstümliche Bereitschaft trifft, Herrschaftsverhältnisse als
  elementare soziale Gegebenheit anzuerkennen. Ihr größter Erfolg besteht denn
  auch darin, diese Bereitschaft permanent reproduziert zu haben. 
  2. DIE SPRACHE DER POLITISCHEN
  CAMOUFLAGE 
  Diese gibt sich, im Gegensatz zur Arkansprache, weder
  autoritär noch geheimnisvoll. Im Gegenteil. Sie setzt auf Allgemeinverständlichkeit
  und Plausibilität, stets darum bemüht, keine Irritationen zu schaffen und so
  zu reden, daß bei möglichst vielen der Eindruck entsteht, durchaus mitreden
  zu können. Das weckt Vertrauen und sichert Wahlergebnisse. Doch geht es bei
  ihr durchaus nicht so harmlos zu, wie sie gern wirken möchte, denn ihre
  Wirkung ist noch verheerender als die den Faktor Macht psychologisch
  instrumentalisierende Arkansprache. Was für diese das Fremdwort, das ist für
  jene das Schlagwort. Und das Spezifische dieser sich zu einem
  Assoziationssystem verbindenden Schlagworte besteht darin, daß sie
  miteinander die Funktion haben, die politische Gedankenwelt auf den Kopf zu
  stellen und also ein buchstäblich verkehrtes Bewußtsein von den tatsächlich
  existierenden Verhältnissen und Motiven zu erzeugen. 
  Die Methodik dieser Manipulation ist ebenso simpel wie
  effektiv. Sie bedient sich nicht des Argumentes oder der Interpretation oder
  der Analyse. Auf das alles kann sie völlig verzichten, denn sie lebt
  wesentlich von einer ganz gewöhnlichen Perversion, nämlich von der reinen
  Verkehrung des Wortsinnes. Die aber wird spätestens dann nicht mehr oder kaum
  noch wahrgenommen, wenn das verkehrte Wort durch die Medien zum Schlagwort
  gemacht worden ist und als »Zeitgeist« ein sprachliches Eigenleben führt. 
  Bei sehr vielen solcher Schlagworte ist das schon lange
  der Fall, schließlich ist die Bundesrepublik mit ihnen groß geworden. Und
  wer redet heutzutage nicht vom »Arbeitnehmer«, wenn er doch eigentlich einen
  seine Arbeit Gebenden meint - und vom »Arbeitgeber«, wenn es um den diese
  Arbeit Nehmenden geht. Das häßliche Wort vom »Arbeitsmarkt« geht immerhin
  davon aus, daß die Arbeitskraft als Ware auf den Markt gegeben werden muß,
  um für einen bestimmten Preis genommen zu werden. Aber selbst in den sog.
  Neuen Bundesländern hat diese die realen Verhältnisse auf den Kopf stellende
  Sprachregelung in bedauerlich kurzer Zeit gegriffen. Das Interesse, beide
  Schlagworte beschleunigt durchzusetzen, war nun aber auch besonders groß.
  Denn sie eignen sich zugleich ganz trefflich dazu, dem Ostdeutschen ein Kernstück
  seiner neuen gesellschaftlichen Über- und Unterordnung klarzumachen, ohne auf
  die Terminologie von »Herr und Knecht« zurückgreifen zu müssen. 
  Die Sprache der versteckten Absicht vereinnahmt durchaus
  nicht jedes Wort. Sie läßt Spielräume, die gegebenenfalls zum Beweis für
  Presse- und Meinungsfreiheit erhoben werden können. Die politische Camouflage
  besetzt und uniformiert ideologische und sprachstrategische Schlüsselbegriffe
  - und sie verfügt darin über erhebliche Erfahrung. Nicht zufällig
  firmierten die beiden großen bürgerlichen Nachkriegsparteien unter einem großen
  »C«, obgleich CDU/CSU als Parteien genau so »christlich« sind wie die
  Republikaner »republikanisch«. Doch wer solchen Sprachgebrauch über
  Jahrzehnte erst einmal verinnerlicht hat und den Widersinn gar nicht mehr spürt,
  der nimmt schließlich auch nicht mehr wahr, daß Schlagworte wie »Freiheit«
  oder »Einheit« oder »Selbstbestimmung« nicht erst zu Klischees verkommen
  sind, sondern bereits bei ihrer Einführung die Funktion hatten, politisches
  Denken zu paralysieren. 
  Bis auf wenige Ausnahmen - und einmal abgesehen von den
  68er Protesten - ist das den Schlagworten auch durchaus geglückt. Die »Nachrüstung«
  hatte es Anfang der 80er Jahre etwas schwerer angesichts einer
  Friedensbewegung, die wieder politisch zu denken anfing, weil die Vorrüstung
  der NATO allzu offensichtlich war und das Schlagwort von der »Gefahr aus dem
  Osten« sich umzukehren begann. Doch diese Friedensbewegung gibt es nicht
  mehr, und so hat es heute das Schlagwort von der »Friedensmission« viel
  leichter, nicht als Tarnname für neue deutsche Kriegsübungen aufgedeckt zu
  werden. 
  Auch andere Schlagworte können sich einer nahezu
  unangefochtenen Verbreitung erfreuen, wie etwa der »Standort Deutschland«,
  der auf breiteste Zustimmung trifft und von dem kein Kommentator sagen würde,
  daß er identisch ist mit der Zurücknahme des politisch und also auch als
  Schlagwort überflüssig gewordenen Sozialstaates, der ja offiziell nicht
  abgebaut, sondern lediglich »umgebaut« wird, mit Hilfe eines »Sparpaketes«,
  das »Reformen« durchsetzen und den Staat durch »Modernisierung« und »Privatisierung«
  »verschlanken« soll. 
  Wie Werbeplakate hängen solche Schlagworte in der
  Medienlandschaft herum, und die Beihilfe der Werbepsychologen ist ja auch unübersehbar:
  die Worte sind bestens ausgewählt, sie setzen in ihrem eigentlichen Sinn
  keine negativen Emotionen, keine Ängste frei, sondern knüpfen an Positives
  an, an Erstrebenswertes. Und sie können darauf bauen, daß der von der
  gigantischen Werbeindustrie auf Schlagworte planmäßig dressierte und also
  vorsätzlich deformierte Intellekt geradezu erwartet, nun auch von der Politik
  und ihren Multiplikatoren in dieser Form bedient zu werden. 
  Glücklicherweise hat die
  Werbung ihr Klassenziel noch nicht vollständig erreicht. Und so gab es bei
  dem sog. »Sparpaket« sogar aus der Spitze sozialdemokratischer
  Gewerkschaftsführung nicht nur die Frage, ob es sich hierbei nicht womöglich
  um eine »Mogelpackung« handeln würde - übrigens auch eine schlagwortartige
  Standardformulierung für eine ebenso verschämte wie unausweichliche Kritik
  -, es gab tatsächlich die überraschend klare Aussage, dieses »Paket« sei
  ein Pakt zwischen »Kabinett und Kapital« und ein Kapitel »Klassenkampf«.
  Ein Wort, das ich aus der Spitze der PDS-Führung schon lange nicht mehr,
  vielleicht auch noch gar nicht gehört habe. 
  Um so mehr fällt mir auf, daß sich auch in der PDS eine
  bestimmte Schlagwort-Unkultur eingenistet hat. Jedenfalls funktioniert das
  Schlagwort »Stalinismus« nach dem angezeigten Schema, nur das es natürlich
  negativ besetzt ist, weil es ja Kritiker politisch ausschalten soll. Etwa
  jene, die den Versuch, den »Gesellschaftsvertrag« als PDS-Schlagwort einführen
  zu wollen, politisch für naiv und historisch für abwegig und so manche Äußerung
  der sog. »Reformer« für einigermaßen fragwürdig halten. 
  Mehr Format als der »Gesellschaftsvertrag« hat da schon
  Andre Bries durchdachte Formulierung von dem »in der Bundesrepublik
  Angekommensein« bzw. »Nichtangekommensein«. Während man nämlich noch
  betroffen darüber nachdenkt und streitet, ob man oder ob man nicht oder ob
  man nur noch nicht angekommen ist, hat man Bries Prämisse bereits geteilt.
  Die aber besteht darin, daß man sich ja irgendwann einmal auf den Weg gemacht
  haben müßte. Und das unterstelle ich den wenigsten Mitgliedern und Wählern
  der PDS, wie ich auch Andre Brie nicht unterstelle, daß er bei seinem Marsch
  in die BRD keine Weggefährten hatte. 
  Doch das ist ja gar nicht mein Thema, auch wenn das Thema
  Macht in der PDS eine erhebliche Rolle spielt - und das nicht nur im Streben
  nach irgendeiner Regierungsverantwortung, die ja mit der wirklichen Machtfrage
  in dieser Gesellschaft nur vermittelt und also abgeleitet zu tun hat, weil
  selbst das kleinste Bundesland nicht gegen die fundamentalen Interessen der
  Banken und Konzerne regiert werden kann, was übrigens vor vielen Jahren sogar
  ein Björn Engholm öffentlich einzugestehen wußte. 
  3. DIE SPRACHE DER OFFENEN
  DEMAGOGIE 
  Die ist ja in der deutschen Geschichte mehrfach so laut
  geworden, daß anschließend die ganze Welt erzitterte. Und gegenwärtig
  erleben wir, nicht nur, aber gerade auch in der BRD, daß Politiker, Militärs,
  Wirtschaftsbosse und auch Intellektuelle wieder zu einer Sprache zurückfinden,
  die der Camouflage nicht mehr bedarf. Das war auch vorauszusehen, denn es
  liegt nicht im Wesen des Kapitalismus, das Kapital und seine wirtschaftliche
  und politische Herrschaft zu verstecken. Dazu muß er sich schon gezwungen
  wissen. Und dazu war er ja denn auch wenigstens teilweise gezwungen. Seit aber
  der europäische Sozialismus nicht mehr existiert, muß sich das Kapital
  jedenfalls seinetwegen keinerlei Zwang mehr antun. Und wie jetzt die
  politischen Gründe für den sog. Sozialstaat entfallen, so entfällt auch die
  Notwendigkeit, in einer Sprache zu reden, die sich populistisch geben und
  hinter Masken verstecken muß. Jetzt kann endlich wieder Fraktur und Klartext
  geredet werden. Und das geschieht inzwischen immer häufiger - in Entsprechung
  zu einer immer hemmungsloser werdenden Politik und Praxis der puren
  Kapitalverwertung. 
  Die Wende zu der rekonstruierten Sprache der reinen
  Machtpolitik findet bereits im sog. »Einigungsvertrag« statt, der in Artikel
  2 ganz programmatisch nur noch von »Deutschland« redet und damit schon
  rhetorisch jenes nationale Pathos rekonstruiert, das dann nicht nur in Rostock
  und Hoyerswerda prompt seine Interpreten fand. Nur 2 Jahre nach der sog. »deutschen
  Einheit« legte auch die deutsche Generalität mit ihren »Verteidigungspolitischen
  Richtlinien« eine Interpretation vor, in der das Schlagwort von der »gewachsenen
  Verantwortung des größer gewordenen Deutschland« abgelöst wurde von der
  nunmehr offen militaristischen Reklamierung »vitaler« deutscher »Sicherheitsinteressen«
  an der »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten
  Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt«. 
  Wer die Herkunft dieses
  Zitates nicht kennt, könnte es durchaus für eine Kriegszielbestimmung von
  1939 oder 1941 halten und an ukrainischen Weizen und russisches Erdöl denken.
  Selbst ein so neutral wirkender Begriff wie der der »Wende« verliert ja
  seine semantische Unschuld, wenn man sich durch Victor Klemperers LTI daran
  erinnern läßt, welche Rolle er gegen Ende des 2. Weltkrieges gespielt hat
  und in welchem Wahnsinn diese »Wende« noch im April 45 zu »des Führers
  Geburtstag« erwartet wurde. 
  Die Sprache dichtet und denkt nicht nur für uns, wie
  Schiller sagt, sie verrät uns auch, wie wir aus der Biographie des Petrus
  wissen. Und es gibt eben nicht nur ideomatische, es gibt auch ideologische
  Dialekte. Und der Begriff der »Wende« gehört zweifellos zu einem solchen
  Dialekt. Jedenfalls beinhaltet er jene Dialektik, die der erzkonservative
  Berliner Bischof Otto Dibelius einmal auf die Formel brachte: Es muß etwas
  Neues kommen, und das Neue muß irgendwie das Alte sein. 
  Inzwischen artikuliert sich das Alte tatsächlich wieder
  ganz neu, etwa in dem Begriff der »Nation«, der nicht mehr einem rechten
  Rand vorbehalten ist, sondern die Mitte der Gesellschaft zu erobern beginnt,
  nachdem er von Herrn Schäuble öffentlich rehabilitiert wurde. Nicht wenige
  Publizisten und Journalisten haben diese Wende begeistert aufgenommen und den
  Katalog der zu rehabilitierenden Begriffe rasch erweitert. So fordert Jochen
  Thies, Ressorleiter für Außenpolitik in der Tageszeitung »Die Welt«,
  endlich doch wieder dem Begriff der »Elite« und der Tugend des »Dienens«
  Geltung zu verschaffen (S. 227ff.). Ansgar Graw, Redakteur beim »Sender Freies
  Berlin« will in einer, wie er sagt, »wehrhaften Demokratie« die »Dekadenz«
  des Pazifismus mit der Wurzel ausgerissen sehen und neben »Opferbereitschaft«,
  »Staatsbewußtsein« und »Nationalbewußtsein« auch eine »Kampfbereitschaft«
  etabliert wissen, die der »ewigen Notwendigkeit« des »Sichwehrens«
  Rechnung zu tragen habe (S. 285ff.). Ähnlich Peter Meier-Bergfeld,
  Korrespondent der Wochenzeitung »Rheinischer Merkur« und ideologischer
  Wegbereiter eines endgültigen Anschlusses Österreichs an Deutschland: es sei
  hohe Zeit, endlich von der Behauptung des »Nonsens« zu lassen, »Gewalt sei
  kein Mittel der Politik« und »soldatische Ehrbegriffe« gehörten nicht in
  die Gesellschaft (S. 203f.). 
  Das alles und noch sehr viel
  mehr über alte und neue deutsche »Heimatliebe«, über »Patriotismus« und
  »Treue« und »Mut« und »Ehre« ist nachzulesen in dem im Ullsteinverlag
  1994 von Heimo Schwilk und Ulrich Schacht herausgegebenen Sammelband »Die
  selbstbewußte Nation«. Schwilk und Schacht arbeiten beide für die »Welt am
  Sonntag«, und natürlich haben sie auch Autoren der FAZ und der »Jungen
  Freiheit« aufzubieten. 
  Aus diesem also erschreckend repräsentativen Band ein
  letztes Zitat zur Demokratie eines »Deutschland«, dessen »Vereinigung«,
  wie es an anderer Stelle heißt, »Auschwitz« als Datum deutscher Geschichte
  endlich relativiert habe (ebd., S. 185). Rainer Zitelmann, der für
  Zeitgeschichte zuständige Ressorleiterkollege von Herrn Graw, schreibt: »Wer...eine
  Demokratie will, die rechte Positionen von vornherein aus dem
  Verfassungskonsens ausgrenzt, setzt sich dem Verdacht aus, die pluralistische
  Demokratie durch eine antifaschistisch-demokratische Ordnung ersetzen zu
  wollen. Der Widerstand gegen solche Bestrebungen ist eine der zentralen
  Aufgaben für Demokraten in Deutschland - und rechte Demokraten sollten hier
  die Unterstützung von linken Demokraten suchen.« (ebd., S. 165) 
  Ich will jetzt am Ende meines
  Beitrages nicht auch noch einen kurzen, scharfen Seitenblick nach Dresden
  werfen, auch will ich nicht auf Zitelmanns Verwirrspiel eingehen, als gebe es
  in der BRD so etwas wie eine »antifaschistisch- demokratische Ordnung«. Ich
  möchte vielmehr abschließen mit der durchaus nicht rhetorisch gestellten
  Frage, welche Konsequenzen es wohl für eine regierungsbeteiligte PDS hätte,
  wenn sich das hehre Wort von der »Demokratie« über kurz oder lang nicht nur
  als eine für Zitelmanns »Demokratie«-Verständnis paßfähige Sprachhülse
  erweist, sondern gar als eines jener Schlagworte politischer Camouflage, die
  auf dem - auch von linken Sozialdemokraten mit großer Sorge verfolgten -
  Marsch in eine »andere deutsche Republik« nicht mehr mitgenommen zu werden
  brauchen. Womöglich noch mit dem Argument, »Demokratie« heiße auf
  Griechisch »Volksherrschaft«, und die habe es in der Bundesrepublik ja
  ohnehin nie gegeben. Herrn Schäubles Vorstoß, »weniger Demokratie wagen«
  zu wollen (FAZ vom 13.9.96), gibt uns jedenfalls schon einen gehörigen
  Vorgeschmack auf eine solche »andere deutsche Republik«. Und wenn es dem
  sog. Neoliberalismus innerhalb sehr kurzer Zeit gelungen ist, das glatte
  Gegenteil von Liberalismus zum Programm zu erheben, sollten wir damit rechnen,
  daß es auch einem sog. Neodemokratismus gelingen könnte, einen
  programmatischen Antidemokratismus zur neuen Staatsdoktrin zu machen.  
  
 
  
Stalin oder doch nicht Stalin 
  
    [Leserbrief zu:
    Kurt Gossweiler, Der Antistalinismus - das Haupthindernis für die Einheit
    aller antiimperialistischen
    Kräfte (Weißenseer Blätter 4/1994, S. 37- 43), in: Weißenseer Blätter 5/1994, S. 62-63] 
    Lieber Hanfried Müller! 
    Selten habe ich etwas mit so gemischten Gefühlen
    gelesen wie den Beitrag von Kurt Gossweiler über den »Antistalinismus« in
    den WBl 4/94. Dabei bin ich mir über den Grad der Mischung noch gar nicht
    so recht im klaren. Daß der von mir persönlich sehr geschätzte Historiker
    Gossweiler in den von mir theologisch wie politisch privilegierten WBl die
    Tabuisierung der Stalin-Thematik durchbricht, findet meinen ungeteilten
    Beifall. Denn nur so kann man sich gegen die beliebig instrumentalisierbare
    »Stalinismus«-Keule wehren, die bekanntlich von vielen Seiten und immer
    dann eingesetzt wird, wenn der Schlag auf den Vorderkopf die fehlenden
    Argumente im eigenen Hinterkopf überdröhnen muß. Und nachdem das nun
    lange genug funktioniert hat, ist der Respekt vor dieser Keule inzwischen ja
    auch so groß geworden, daß man lieber dreimal dementiert oder gar zweimal
    revoziert, als einmal von ihr getroffen zu werden. Aber weil man weiß, daß
    sie wie ein Damoklesschwert eigentlich über jeder unliebsamen Äußerung
    schwebt und die Hinterköpfe immer leerer werden, schickt man sich ins
    scheinbar Unvermeidliche und sagt lieber gar nichts mehr. Man verstummt oder
    man verdummt. 
    Wenn ich Gossweiler richtig verstanden habe, dann
    will er sich diesem Diktat nicht länger beugen. Und so holt er nun
    seinerseits zu einem »Befreiungsschlag« aus, indem er sich im Gegenüber
    zu der Vielzahl von Stalins Verklägern ganz einfach zu dessen Anwalt macht.
    Und wie Anwälte das eben so machen: sie geben nichts zu und verteidigen
    alles, selbst wenn alles gegen ihren Klienten spricht. 
    Vor einem ordinären Gericht mag das ja durchaus auch
    in Ordnung sein, aber als Historiker ist man kein Anwalt und auch kein
    Anwalt der Geschichte, sondern deren Rekonstrukteur und Interpret. Ihr
    Anwalt könnte man nur nach Maßgabe einer Geschichtsphilosophie werden, in der, wie bei Hegel,
    das Wirkliche immer auch das Vernünftige, mithin also das wirklich
    Notwendige ist. Aber gerade an Hegel sehen wir ja, daß das ohne Teleologie
    gar nicht geht. Die aber sollte für einen marxistischen Historiker höchstens
    ein Forschungsthema sein, nicht aber ein Grundsatz seiner historiographischen
    Methode. Das Marxsche Verständnis von Entwicklung hat jedenfalls mit
    Teleologie nichts zu tun, auch wenn Marx sehr wohl um Ziele weiß. Aber
    gerade hier hat er Hegel doch Beine gemacht. Denn zu Marx’ Zielen gelangt
    man nicht durch den Selbstlauf der Geschichte, sondern ausschließlich auf
    dem Wege einer revolutionären Praxis. 
    Um eben diese Praxis aber muß es bei der Beurteilung
    Stalins gehen, und die erste Frage dabei ist, welche revolutionäre Praxis für
    ihn denn nun eigentlich namhaft gemacht werden könnte. 
    Industrialisierung allein macht noch keine sozialistische
    Revolutionierung, und die Liquidierung politischer Gegner und persönlicher
    Rivalen ist nicht schon Ausdruck einer revolutionären
    Praxis. Was aber bleibt? Bei Stalin womöglich sehr wenig, denn als
    Theoretiker hat er keinen besonderen Namen und als Militär nur einen, den
    ihm ausschließlich die Rote Armee gemacht hat, die Hitlerdeutschland
    besiegte, obwohl ihr Generalissimus gar nicht mit einem Krieg rechnete und
    sich nach dessen Beginn erst einmal für 14 Tage auf seine kaukasische
    Datsche zurückzog. Selbst als Politiker hatte er also bedeutendere
    Kollegen. Und als Internationalist? 
    Womit also will Gossweiler Stalin eigentlich
    verteidigen? Verteidigen ließe er sich doch nur, wenn mit ihm persönlich
    eine revolutionäre Praxis verteidigt werden könnte, die diesen Namen auch
    verdient. Die aber kann ich beim besten Willen nicht erkennen, wiewohl ich
    nach wie vor voller Anerkennung für die Heldentaten der Völker der UdSSR
    bin, die ohne die Oktoberrevolution nicht denkbar gewesen wären. Doch der
    Aufbau der UdSSR ist doch nun aber nicht Stalins Werk, sondern das Produkt
    einer kollektiven Leistung, die man nachträglich höchstens schmälert,
    wenn man sie »stalinisiert«. 
    Das hingegen von Stalin allein zu verantwortende Erbe
    sieht da weit weniger heroisch aus. Mag ja sein, daß er einem Gorbatschow
    rechtzeitig das Handwerk gelegt hätte. Aber es geht nun ausschließlich
    doch auf sein Konto, daß sich in der SU ein Führungsprinzip etablieren
    konnte, das es einem Gorbatschow schließlich sogar ermöglichte, völlig
    ungehindert seine eigene Partei zu vernichten und eine sozialistische
    Weltmacht auszuliefern. Stalin ist nicht die Alternative zu Gorbatschow, er
    ist dessen institutionalisierte Voraussetzung. Und daß Leute wie
    Gorbatschow oder Jelzin überhaupt je in ein Politbüro der KPdSU einziehen
    konnten, ist die Folge eines von Stalin zu verantwortenden Regimes, in dem
    ganz offensichtlich der Opportunismus größere Chancen hatte als das
    Prinzip der kollektiven Führung. 
    Und nun will Gossweiler auch noch behaupten, der »Antistalinismus« sei »heute
    tatsächlich das größte Hindernis für den Zusammenschluß der Kommunisten«.
    Wäre ich Mitglied einer KP, würde ich an dieser Stelle wohl ziemlich laut
    protestieren. So aber ziehe ich mich auf die moderate Frage zurück, ob
    diese These wirklich gut durchdacht ist - oder ob sie nicht vielmehr ein
    Kaliber hat, dessen Rückstoß politisch so verheerend werden könnte, daß
    am Ende mehr Kommunisten zusammenstoßen und zusammengestoßen werden, als
    bei einem Zusammenschluß auf der Basis eines solchen »Anti-Anti-Stalinismus«
    überhaupt zusammenkommen würden. Die »Stalinismus«-Keule entschärft man
    so jedenfalls nicht. Und womöglich haben die WBl ihre Wirkung nun sogar
    noch erhöht. 
    * 
    [P.S. - August 2014: Nachdem der Autor endlich hinreichend 
    Zeit und Gelegenheit hatte, eine Fülle an Literatur und Dokumenten zu 
    studieren, erklärt er sein Bedauern darüber, in seiner obigen Einschätzung 
    Stalins ungeprüft jenen antistalinistischen Standards gefolgt zu sein, die 
    im wesentlichen aus der verlogenen „Geheimrede“ Chruschtschows abgeschrieben 
    wurden.] 
      
   
   
 
Nach-Denken über den Sozialismus 
[in: Klaus Höpcke/Hans-Joachim
Krusch/Hans Modrow/Harald Neubert/Wolfgang Richter/Robert Steigerwald (Hg.),
Nachdenken über den Sozialismus, GNN Verlag, Schkeuditz 2000; Beitrag zur
wissenschaftlich-politischen Konferez »Nachdenken über den Sozialismus«,
Berlin 23./24. Oktober 1999] 
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin noch nicht
ganz in dem Alter, in dem man sich am liebsten nur noch selber zitiert. Aber ich
wiederhole mich durchaus, wenn ich auch heute wieder feststellen muß, daß ich
mich als Theologe unter Gesellschaftswissenschaftlern immer wie ein Homöopath
unter Schulmedizinern fühle. 
Dabei hält sich meine Neigung zur Homöopathie durchaus
in Grenzen - wohl auch deshalb, weil ich zureichend beobachten mußte, wie oft
und wie innig die Schulmedizin auf die wundersame Kraft des Placebos setzt. Vor
so vielen Gesellschaftswissenschaftlern werde ich mich aber hüten, diese
Metapher jetzt ausführlich zu interpretieren. 
Als Präliminarium erlaube ich mir lediglich noch die
Bemerkung, daß bei dem Thema dieser Veranstaltung ein Theologe gar nicht so
deplaziert ist, wenn man davon ausgeht, daß sich ein Nach-Denken über den
Sozialismus, will es denn seriös und angemessen sein, der den Theologen von
Hause aus recht vertrauten Gattung des Nekrologs kaum entziehen kann. 
Damit bin ich auch schon bei meiner ersten von 2 Thesen,
die ich hier zur Diskussion stellen möchte. 
1. Wer heute über den Sozialismus nachdenkt, der kommt
nicht an der quälenden Frage vorbei, ob nicht mit dem Untergang des
sozialistischen Lagers womöglich auch der Sozialismus in der Weltgeschichte
definitiv untergegangen ist. 
Ich weiß sehr wohl, daß ich nicht nur in Bayern allein
schon für diese Fragestellung heftigen Beifall einstecken müßte und das fragwürdige
Kompliment auszuhalten hätte, mit diesem Ansatz auf dem allerbesten Wege zu
sein, im Kapitalismus endlich ankommen zu können. 
Natürlich weiß ich auch um den linken Protest, den eine
solche Fragestellung provozieren muß. Und dieser Protest ist mir nicht nur
verständlich, er ist mir ja eigentlich auch sehr sympathisch. Doch Vorsicht ist
geboten, denn meine Sympathie gilt nicht jenen, die vor 10 Jahren mit dem ebenso
dreisten wie dummen Argument jonglierten: der »Staatssozialismus« müsse
beseitigt werden, damit sich endlich der wahre und also »demokratische
Sozialismus« entwickeln könne. Ich würde ja gern meinem Kirchenlehrer Karl
Barth folgen wollen, der in einem theologischen Exkurs über die Dämonen dazu
geraten hat, ihnen höchstens einen kurzen, scharfen Seitenblick zukommen zu
lassen. Aber der Untergang des Sozialismus und also auch das Ende der DDR wurde
von so vielen Dämonien getragen und begleitet, daß man selbst heute noch nicht
ganz genau weiß, wohin und wohin man besser nicht blicken sollte. 
Der wirklich linke Protest gegen die in der Tat fürchterliche
Arbeitshypothese vom definitiven Ende des Sozialismus artikuliert sich seit 10
Jahren rhetorisch auf unterschiedliche, der Sache nach aber sehr einstimmige
Weise. Ob da - in vorausgesetzter historischer Analogie zur »frühbürgerlichen
Revolution« - vom »Frühsozialismus« die Rede ist oder - wiederum analog -
vom »frühsozialistischen Absolutismus«, die Intention dieses Vokabulars
koinzidiert durchaus mit jenen Wendungen, in denen ebenfalls auf Vorläufigkeit
abgehoben und dementsprechend etwa vom »Sozialismusversuch« oder vom »Experiment«
gesprochen wird. 
Als frohe Botschaft klingt das ja auch gar nicht
schlecht: Nicht der Sozialismus ist liquidiert worden, sondern lediglich der
erste »Versuch«, ihn zu errichten. Das »Experiment« ist zwar nicht geglückt,
aber welcher Laborant experimentiert nur einmal. Die Bourgeoisie hat schließlich
auch mehrere Anläufe nehmen müssen, bis sie den Adel endlich domestizieren
konnte. Und das hat Jahrhunderte gedauert. Seid also nicht ungeduldig, und
resigniert nicht. Schließlich gibt es ja auch noch China. Und selbst wenn das
ein Irrtum werden sollte und auch mit Kuba, Vietnam oder Nordkorea kein
Indizienbeweis mehr geführt werden kann, dann bleibt aber immerhin noch die
uralte sozialistische Idee - und die kann uns niemand kaputt machen. 
Unter Theologen würde man den Tenor einer solchen
Botschaft Paraklese nennen: Beistand, Ermunterung, Tröstung. Und ich
wage schon gar nicht mehr zu sagen: Vertröstung. Statt dessen meine aufrichtige
Bitte an Sie, mich nicht mißzuverstehen. Ich wäre gern der erste, der das
alles auch so sagen würde und, ich gestehe, als erziehungsverpflichteter Vater
von vier Kindern in meiner Not manchmal sogar sage. Mit einem irgendwie
schlechten Gewissen, denn mit Marx hat das alles gar nichts zu tun. 
Nun bin ich zwar kein bekennender Marxist, aber auch als
Theologe folge ich natürlich programmatischen gesellschaftswissenschaftlichen
Erkenntnissen mindestens so konsequent wie ein Homöopath den programmierten
Gesetzen seines Personalcomputers. 
Durch Marx haben wir einen Einblick in das real
existierende Betriebssystem der Gesellschaft erhalten. Was wir aber in diesem
Betriebssystem nicht finden werden, das ist jene durchaus faszinierende
Vorstellung von Entwicklung, die uns Hegel als der große Systematiker des
Virtuellen hinterlassen hat: die universale Synopse einer sich im dialektischen
Dreivierteltakt bewegenden Menschheitsgeschichte auf dem unaufhaltsamen Wege zu
ihrem endgültigen Ziel. Mit rhythmischer Notwendigkeit schält sich da die eine
Epoche aus der anderen heraus, ohne ihrer Aufhebung in die nächste entgehen zu
können, bis endlich das große Finale gespielt werden kann - und nun wird
selbst Hegel trivial und Schopenhauers Verdikt, daß über ihn denn doch wohl
die Götter gelacht hätten, läßt sich jedenfalls für dieses dicke Ende kaum
bestreiten, denn es spielt, wie wir wissen, ausgerechnet in Preußen. 
Ich kann in der gebotenen Abbreviatur weniger begründen
als behaupten, aber ich behaupte dafür sehr dezidiert, daß dieser Hegel nicht
nur im Popularmarxismus eine erhebliche und damit auch eine verheerende Rolle
gespielt hat. Natürlich haben wir Preußen ausgetauscht und das Finale in den
Kommunismus verlegt, von dem im Sozialismus schon ein gewaltiges Präludium
erklingen sollte. 
Wirklich gravierend aber war, daß wir diesen Mythos der
Apotheose nun auch noch mit Hegels dialektisch aufsteigender Selbstbewegung der
Geschichte verbanden, zwar niemals von »Selbstbewegung« sprachen, ihr aber
immer dort das Wort redeten, wo wir über die »objektive Gesetzmäßigkeit«
des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus dozierten, über die »Unaufhaltsamkeit«
des »revolutionären Weltprozesses«, vor dem, wir haben das ja noch im Ohr,
selbst »Ochs und Esel« kapitulieren müßten. 
Ich bestreite gar nicht, daß man sich mit »objektiven
Gesetzmäßigkeiten« auch Mut machen, und daß es unter Umständen sogar
geboten sein kann, auf diese Weise Pathos zu vermitteln. Und ich bestreite vor
allem auch nicht die Existenz objektiver Gesetzmäßigkeiten. Die entscheidende
Frage aber war und ist die nach dem historischen und gesellschaftlichen Ort
ihrer Gültigkeit. 
Wenn es richtig ist, daß die Entwicklung der Produktivkräfte
zum ökonomischen Fundament gesellschaftlicher Revolutionen gehört, dann muß
auch die Umkehrung gelten, die den Begriff der Revolution wesentlich mit dieser
Entwicklung der Produktivkräfte verbindet. Der Prozeß der bürgerlichen
Revolution ist dafür ein hervorragendes Paradigma. An ihm läßt sich
exemplarisch zeigen, wie die Entwicklung der Produktivkräfte die bestehenden
Produktionsverhältnisse sprengt und so zur objektiven Triebkraft der
Revolutionierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse wird. Ihren Sieg also
verdankt die Bourgeoisie »in letzter Instanz« den revolutionierenden Produktivkräften.
Und sie konnte es sich dann sogar leisten, dem alten Adel in ihrer neuen
Gesellschaft komfortable Nischen einzuräumen. 
Das konnte, mutatis mutandis, die sozialistische
Gesellschaft natürlich nicht, auch wenn es in ihr genügend Nischen gab, in die
sich Bürger- und Kleinbürgerliches zurückziehen konnte. 
Der entscheidende Unterschied zur bürgerlichen
Revolution besteht jedoch nicht darin, sondern in dem Fehlen einer der neuen
Klasse des Proletariats genuinen Produktivkraftentwicklung. Die Bourgeoisie ist,
sehr verkürzt gesagt, ein Kind der wissenschaftlichen und technischen
Revolutionierung des mittelalterlichen Handwerks, und diese Revolutionierung ist
ein Kind der Bourgeoisie. Wiewohl nun auch das Proletariat als Klasse an sich in
dieser die Industrialisierung hervorbringenden Entwicklung seine Genese hat, im
Gefüge kapitalistischer Verhältnisse bleibt es ein dominiertes und
ausgebeutetes Objekt, das zum dominierenden Subjekt einer Klasse an und  für
sich nur durch den Umsturz dieser Verhältnisse wird. Hier schlägt die Stunde
des »Kommunistischen Manifests«, und seit 1917 bekommt das erbauliche Bild vom
Totengräber der Bourgeoisie reale Konturen. 
Aber auch nach der ersten erfolgreichen Grablegung bleibt
es dabei, daß die nunmehr den Sozialismus errichtende neue Klasse des
Proletariats keine neuen Produktivkräfte hervorbringt, zunächst zwar zunehmend
effektiver mit den übernommenen umzugehen weiß und dabei teilweise auch die
Vorzüge sozialistischer Produktionsverhältnisse nutzen kann, am Ende aber doch
irritiert zusehen muß, wie ausgerechnet von der alten Bourgeoisie eine neue
Runde der wissenschaftlich-technischen Revolution eingeläutet wird, die zudem
nun auch noch zur Folge hat, daß der Begriff der »Arbeiterklasse« und erst
recht der des »revolutionären Proletariats« seine alte Konsistenz zu
verlieren beginnt. 
Ich beschließe die fragmentarische Erläuterung meiner
ersten These mit der Feststellung, daß es mir vor dem Hintergrund dieses
Prozesses sehr schwer fällt, ernsthaft von »Frühsozialismus« und also in
einer Diktion zu reden, die die Illusion erzeugt, es würde gute Gründe für
die Annahme geben, daß die Geschichte nach dem Ende des real existiert habenden
Sozialismus einen neuen Anfang bereithalten müsse. 
2. Das Maß der Verantwortung für den Untergang des
Sozialismus wächst proportional zur Wahrscheinlichkeit seines irreversiblen
Endes. 
Ich rede mit Vorsatz so distanziert formelhaft, weil ich
Vokabeln vermeiden möchte, von denen her auf meine Emotionen geschlossen werden
könnte, die sich in den letzten Jahren immer stärker werdenden Turbulenzen
ausgesetzt sehen. Vor 10 Jahren war ich immerhin noch so naiv, Gorbatschow zum
Trotz glauben zu wollen, daß der Sozialismus den sog. Kalten Krieg letztlich verloren
habe. Heute ist es nun schon kein Geheimnis mehr, daß Gorbatschow nur ein Name
unter sehr vielen war und daß da nicht nur verloren
wurde, sondern vor allem auch aufgegeben
und nicht zuletzt auch verraten. 
Wie schwer diese Preisgabe und dieser Verrat wiegen, das
läßt sich mit sehr unterschiedlichen Maßen verrechnen, und wer seine
kommerzielle oder politische Karriere erst nach dem 9. November 1989 beginnen
oder erfolgreich adaptieren konnte, der wird womöglich ein anderes
Verrechnungssystem zugrunde legen als jene, die nun den entfesselten
Kapitalismus auszuhalten haben. 
Doch während für die einen wie für die anderen die
Wechselkurse schwanken, könnte für die Menschheitsgeschichte feststehen, daß
der historische Kairos für eine fundamentale gesellschaftliche Alternative
unwiederbringlich vorüber ist. Es ist ein Gebot der intellektuellen
Redlichkeit, diese Dimension der sog. »Wende« wenigstens zu reflektieren,
bevor man eilfertig die nachgerade liturgisch gewordene Wendung repetiert: »Auch
wir wollen die DDR nicht wiederhaben, jedenfalls nicht so, wie sie am Ende war.« 
Abgesehen davon, daß es doch einen erheblichen
Unterschied geben dürfte zwischen einer Gesellschaft, der die Ideale verkommen,
und einer Gesellschaft, die verkommene Ideale hat - selbst an ihrem in vielem in
der Tat schwer erträglichen Ende war die DDR jedenfalls kein kapitalistisches
Land. Und in menschheitsgeschichtlicher Perspektive dürfte dieses mehr zählen
als alle DDR-Gravamina zwischen 1949 und 1989 zusammengenommen. 
Ich habe zwar immer noch keinen Stellenbeleg für die
Marxsche Alternative »Sozialismus oder Barbarei«, doch selbst wenn sie gar
nicht von Marx, sondern höchstens marxistisch ist, bereits 10 Jahre nach dem
Untergang des europäischen Sozialismus beginnen sich die ersten Konturen
abzuzeichnen, innerhalb derer diese Alternative ihre Verifikation finden könnte. 
Dabei sind Zwischenphasen überhaupt nicht
ausgeschlossen, wie ja auch überhaupt nicht auszuschließen ist, daß die
klassische Bourgeoisie nicht das letzte Wort in der Geschichte haben wird,
sondern ihren Totengräber in einer neuen Klasse findet, auch wenn über deren
ökonomische und gesellschaftliche Konstituierung gegenwärtig höchstens
spekuliert werden kann. Voraussagen aber ließe sich immerhin, daß eine neue
Klasse, sollte sie denn in die Geschichte eintreten, keineswegs den
antagonistischen Klassencharakter der Gesellschaft aufheben muß. 
Die wahrscheinlich einmalige historische Chance dafür
hatte lediglich die Arbeiterklasse. Und ich komme noch einmal - nun allerdings
aus ganz anderer Perspektive und gewissermaßen in dialektischer Umkehrung - auf
die Rolle der Produktivkräfte zurück, wenn ich behaupte: die Chance bestand
wesentlich auch deshalb, weil das Proletariat außer seinen Fesseln nichts zu
verlieren hatte - also auch keine eigentümliche Bindung an eine
klassenspezifische Produktivkraftentwicklung. 
Eine an revolutionierende Produktivkräfte gebundene
revolutionäre Klasse kann ihr Klassenziel nicht in der Aufhebung der
Klassenunterschiede sehen, weil ihr erstes Interesse immer in der Aufhebung überkommener
Produktionsverhältnisse bestehen wird. 
Und so kommt denn dem großen Wort von der »historischen
Mission der Arbeiterklasse« auch heute noch und heute erst recht eine
einzigartige, aber eben auch eine einmalige Bedeutung zu. 
Diese Mission wurde nicht erfüllt. Dennoch kann ich sagen: Ich habe auf das
richtige Pferd gesetzt, auch wenn das falsche gewonnen hat.  
  
  
 
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