Vernunft&Ethik

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V. ETHIK UND AUFKLÄRUNG

ETHIK UND BILDUNG

Erwägungen zur Perspektive menschheitlichen Überlebens

Kopernikus und die Folgen. Erinnerung an ein neues Denken

Vom Verlust der Mitte und dem Mut der Aufklärung, sie wiederzufinden

ETHIK UND BILDUNG

Erwägungen zur Perspektiven menschheitlichen Überlebens

[in: Kommunität, Berlin 1989 (Festschrift für Peter Heilmann), S. 4-20]

Jede den Menschen wirklich betreffende Frage ist ihrem Wesen nach eine ethische, denn sie ist zugleich immer auch eine Anfrage an den Mit-Menschen. Hinter dieser Einsicht steht der anthropologische Hauptsatz des Aristoteles, daß der Mensch ein zoon politikon sei, ein gesellschaftliches - oder wie das 19. Jahrhundert gern sagte: ein geselliges - Lebewesen, ein in Sozialität nicht nur eingebundenes, sondern allein auf Sozialität hin definierbares. Aber eben nicht nur auf Sozialität allein hin.

Heute wissen wir, daß wir im Blick auf den Menschen von einem bio-psycho-sozialen Phänomen zu sprechen haben - eine Beschreibung, die die an Marx orientierte Bestimmung des Menschen als ein Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse nicht zurücknimmt, sondern konkretisiert und weitet. Für die Ethik setzt diese polydimensionale Sicht des Menschen ein neues Problembewußtsein frei, das in der Formulierung damit verbundener völlig neuer Problemzusammenhänge erst noch am Anfang steht. Außerhalb der theologischen Ethik wird Ethik als Wissenschaft in der Regel als eine philosophische Disziplin definiert, die die Moral als gesellschaftliche Erscheinung zu ihrem Gegenstand hat, im wesentlichen also auf ein soziales Phänomen fixiert ist. Diese Perspektive wissenschaftlicher Ethik ist fraglos von grundsätzlichem Interesse. Sie provoziert jedoch die zunehmend dringlicher werdende Frage nach der Bedeutung des Subjekts für die sozialen Prozesse und Erscheinungen. Wenn das Subjekt sozialer Erscheinungen und Prozesse - mithin also auch der Moral - der Mensch in seiner bio-psycho-sozialen Entität ist, dann muß das Konsequenzen haben auch für das Selbstverständnis wissenschaftlicher Ethik, die sich dann eben nicht mehr nur auf die soziale Komponente allein konzentrieren kann, sondern sich der Aufgabe zu stellen hat, gleichermaßen auch den bio-psychischen Faktoren Prägnanz abzugewinnen.

Mit dieser These verbindet sich eine zweite, die darauf zielt, die wissenschaftliche Ethik nun eben nicht ausschließlich als eine philosophische Disziplin zu klassifizieren, sondern als eine letztlich interdisziplinäre, in der dem naturwissenschaftlichen Sachverstand nicht weniger Bedeutung zukommt als der philosophischen und gesellschaftswissenschaftlichen Reflexion. Wenn es in der Ethik im weitesten Sinne um die Moralität menschlicher Beziehungen geht, dann kann die Frage nach dem Bio-psychischen und in diesem Sinne also die Frage nach der »Natur« des Menschen nicht ausgeklammert werden, denn die Dynamik sozialer Prozesse und die Qualität sozialer Beziehungen konstituieren sich nicht nur durch soziale Bewegungsmechanismen. Vielmehr sind diese ihrerseits bio-psychisch untersetzt. Und welches Gewicht diesem bio-psychischen Aspekt dabei zukommt, wird deutlich, wenn man in der Beschreibung des Menschen als einem bio-psycho-sozialen Phänomen nicht nur die Komplexität, sondern eben auch das Gefälle einer ja zum Ausdruck gebrachten Graduierung verinnerlicht, die davon ausgeht, daß der Mensch zunächst erst einmal aus nichts anderem denn aus »Fleisch und Blut« besteht - und gewiß auch aus genetischen Informationen, die aber bereits vor der Geburt gelöscht sein können, ohne daß wir nach der Geburt das Recht hätten, den Namen »Mensch« zu verweigern. Denn was den Menschen zum Menschen macht, ist letztlich allein die Tatsache, daß er von Menschen gezeugt und geboren wird.

Marxistische Ethik hat sich lange dagegen gewehrt, der Frage nach dem Bio-psychischen Raum zu geben. Und das ist verständlich, denn die im 16. Jahrhundert einsetzende naturwissenschaftliche Anthropologie mündete schließlich in jenen philosophischen Anthropologismus, der im Menschen nur noch ein bio-psychisches Wesen sehen wollte. Und nicht zufällig verband sich ja dann bei Max Scheler diese transsoziale Schau der »ewigen Menschennatur« mit dem präfaschistischen Entwurf des »deutschen Menschen«. Vorsicht bleibt beim Stichwort »Anthropologie« durchaus geboten, auch wenn sich Sartre anders liest als Arnold Gehlen oder Konrad Lorenz. Weil es menschliche Existenz faktisch nur als Koexistenz gibt, bleibt der Zugang zu einer Antwort auf die Frage nach einem von Sozialität absehenden »An-sich« menschlicher Existenz verlegt. Und die Kantsche Problematisierung des »Dinges an sich« findet jedenfalls hier ihre unbestreitbare Verifikation. Diese erlaubt - ins Ethische gewendet - den Nachsatz, daß die - vor allem auch in der theologischen Ethik häufig artikulierte - Unterscheidung von Individualethik und Sozialethik eine bloße Fiktion bleibt, eine noetische Konstruktion, die als solche nicht einmal hilfreich sein muß. Denn jeder nur denkbare Moralbegriff ist sozial ausgelegt, weil er sozial angelegt ist. Selbst ein noch so privat gehaltener Tugendbegriff bleibt an Sozialität gebunden und bekommt nur von hier her seinen Sinn.

Noch lange bevor Aristoteles vom zoon politikon sprach, wußte das Alte Testament davon zu reden, daß der Begriff des Menschen eigentlich sogar komplementär bestimmt werden müsse. Genesis 1,27: Gott schuf den Menschen als Mann und Frau. Die Tragweite dieser Aussage läßt sich entdecken, wenn man Gen. 1,27 vor dem Hintergrund des alttestamentlichen Gemeinschaftsverständnisses liest, das den Einzelnen nie anders als auf die Gemeinschaft des Volkes Israel bezogen sieht. Objekt der Erwählung ist nicht der einzelne Israelit, sondern das Volk Israel. In Gen. 1,27 wird dieser Sozialitätsgedanke gleichsam anthropologisch untersetzt. Und es klingt für unsere Ohren geradezu paradox, wenn dort gesagt sein will: der Mensch besteht aus Mann und Frau. Das heißt: streng genommen ist der Mensch gar kein Individuum, kein Unteilbares. Er ist vielmehr ein Dividiertes, das seinen eigentlichen Begriff erst in der Kommunität erreicht - in der Gemeinschaft von Mann und Frau, in umfassenderem Sinne: im Ereignis von Sozialität.

Gen. 1,27 gehört zum sogenannten Schöpfungsbericht, in dem an jenen »Urstand« erinnert wird, der noch nichts über des Menschen »Fall« weiß. Doch dieser »Fall« ereignet sich - und mit ihm jene große Zäsur, in deren Konsequenz auf einmal ein ganz anderer Mensch auf den Plan tritt. Nun besteht der Mensch nicht mehr aus Mann und Frau. Er hört auf, ein Dividiertes und also auf Gegenseitigkeit hin Angelegtes zu sein. Nun will er wie Gott selbst sein - ein Individuum, ein Unteilbares, ein in sich Ganzheitliches, das der Ergänzung nicht mehr bedarf. Und so erschlägt Kain seinen Bruder Abel. Die Menschheitsgeschichte hat begonnen, und sie konfrontiert uns mit der Klage, daß sich der Mensch, der ohne Sozialität letztlich nicht einmal gedacht werden kann, aufs Ganze gesehen asozial verhält. Eine Erfahrung, die wir bestätigen können, wenn wir dem Begriff des Asozialen Tiefe und Weite geben und ihn über die enge Definition gesellschaftlicher Unangepaßtheit hinausführen. Kain verhält sich nicht unangepaßt. Er entledigt sich seines Bruders, weil es zu einem Interessenkonflikt gekommen ist: die von Abel Gott dargebrachte Opfergabe findet bei diesem Anerkennung und Wohlgefallen, nicht aber auch das Opfer des Kain. Und schon nimmt die Weltgeschichte ihren Lauf. Eine Weltgeschichte, deren Subjekte sich nun in der Tat als In-dividuen ausweisen, als Unteilbare - mit eben jenem ungeteilten Interesse, das sich dem Anderen nur mitteilt, sofern dieser das je meinige Interesse teilt. Der Konflikt ist programmiert, und Harmonie wird zu einem Zufall, der sich einstellt, wo Interessen nicht kollidieren, sondern koinzidieren. Und natürlich werden sich diese Zufälle häufen, wo diese Unteilbaren zuhauf kommen, um schließlich über die Sippe hinauszuwachsen und als Gesellschaft im Verbund eines Staates auch von übergreifenden Interessen harmonisiert zu werden. Der Konflikt der Unteilbaren aber bleibt. Nur tritt nun der Brudermord zurück hinter den Interessengegensatz ganzer Klassen und Schichten. Krieg heißt nun der Mord, der ins Fürstliche, Königliche, Parlamentarische gewendete. Die Logistik der Geschichte wird transparent, und Marx und Engels bestätigen den von ihnen hochverehrten alten Heraklit: »Der Streit ist das Recht der Welt, der Vater und König aller Dinge.« Nur klingt das jetzt noch lebensnaher, das Leben selbst mischt sich in das Prinzip, das nunmehr lautet: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.«

Wir sind noch immer beim Thema »Ethik« , auch wenn wir noch nicht bei der Moral selbst angelangt sind. Aber es ist eben dieser erste Schritt, auf den alles ankommt. Und es gibt mehrere Wege. Erster Weg: Wir betreten das Feld jener wissenschaftlichen Ethik, die die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der Moral als einer sozialen Erscheinung untersucht. Ein möglicher Weg, der uns allerdings an den Subjekten der sozialen Erscheinungen und damit an der Frage vorbeiführt, welche Bedeutung die bio-psychologischen Gesetze, denen menschliche Existenz unterworfen ist, für die Moral in ihrer sozialen Erscheinung haben. Und so könnten wir versucht sein, uns vielleicht doch lieber einem zweiten Weg zuzuwenden, auf dem uns die These angeboten wird, daß im eigentlichen Sinne von einer Entwicklung der Moral ohnehin nicht die Rede sein könne, weil der Mensch letztlich immer derselbe bliebe und sich lediglich seine äußeren Existenzbedingungen und Sozialbeziehungen verändern würden. Mit dieser metasozialen These ließe sich plausibel leben - wenn sie zutreffen würde. Die Geschichte der Ethik zeigt nun aber, daß es nicht nur Entwicklungen des Moralbewußtseins gibt, sondern daß dieses geradezu qualitative Sprünge gemacht hat, deren soziale Beweggründe kaum bestritten werden können.

Einem der größten und aufregendsten Sprünge begegnen wir in der Lebensphilosophie der Stoa, jener philosophischen Bewegung, die die griechische Welt ebenso nachhaltig geprägt hat wie die römische. Um das Jahr 300 ante Christum natum ins Leben getreten, blühte sie - wenn auch zuletzt mehr in Vereinzelung - bis in das 4. Jahrhundert post Christum natum und gehörte somit auch zu jener heidnischen Philosophie, in deren Umfeld die christlichen Gemeinden entstanden. Als Zenon aus Cition um 300 in der stoa poikile, der mit Gemälden geschmückten Halle am Markt von Athen, seine neue Philosophie vorträgt, ist Athen bereits ein Zentrum des Hellenismus. Als Alexander der Große 323 stirbt, hinterläßt er ein Reich, das sich im Osten bis nach Indien erstreckt und im Südwesten Ägypten umfaßt. Der Hellenismus wird zur sozio-kulturellen Signatur dieses Vielvölkerstaates, in dem sich Nationalitäten wie in einem Schmelztiegel vermischen, in dem sich die unterschiedlichsten Religionen begegnen und sich synkretistisch zu assimilieren beginnen; und der strenge Nationalismus weicht einem Weltbürgertum, für das die Stoa dann den begriff »Kosmopolitismus« prägen wird. Diesem Kosmopolitismus, dieser weltbürgerlichen Öffnung nach außen - bedingt durch den weiten Horizont eines Weltreiches - korrespondiert andererseits ein geschärfter Blick für den Einzelnen, der in höchster Gefahr steht, in diesem Meer der Völkerverschmelzung verlorenzugehen. So entspricht dem Kosmopolitismus, dem Blick in die Weite des Alexanderreiches, ein sich eindrücklich artikulierender Individualismus. Und mit diesem Individualismus verbindet sich das Ideal der Apathie und der Ataraxie, das Ideal der Unbekümmertheit und Unberührtheit gegenüber den äußeren Dingen und Ereignissen des Lebens. Wer in diesem Weltreich überleben will, der muß sich auf sich selbst zurückziehen - unbeeindruckt von dem Auf und Ab des politischen Geschehens. Weltflüchtigkeit gehört durchaus zum Klima der hellenistisch geprägten Stoa, und der Freitod, die exagoge wird zum Inbegriff einer Lebenssouveränität, die sich allein auf sich selbst gestellt weiß und diese Vereinzelung andererseits nun gerade dadurch zu überwinden versucht, daß sie den singulären Absolutheitsanspruch auf das Leben relativiert. Leben ist mehr als nur mein eigenes Leben; es ist auch das Leben des anderen, dem es letztlich ja nicht anders ergeht. Und der andere ist nun sogar auch der Sklave, der Barbar, der Banause, ja: der Mensch als solcher. Ein Gedanke, der für die vorstoische griechische Philosophie undenkbar gewesen war. Vergeblich suchen wir bei Plato und Aristoteles nach dem Begriff des Menschen, nach der Idee der Menschheit. Ein Mensch ist, wer kein Barbar, sondern ein Grieche ist. Und natürlich nicht irgendein Grieche, sondern ein Bürger der Polis. Und natürlich nicht irgendein Bürger, sondern ein Mann - ho anthropos: der Mensch = der Mann. Um diesen anthropos kreist die Ethik der alten Griechen, durch und durch egozentristisch, eudämonistisch, utilitaristisch. Der Nächste ist höchstens der Bürgerfreund, nicht aber schlechthin der Andere. Dieser existiert ideengeschichtlich noch gar nicht. Erst mit der Stoa tritt er auf den Plan, und mit ihm das große Wort von der Philanthropie, von der Menschenliebe, von der humanitas, wie dann die römischen Stoiker sagen werden. Homo homini sacra res. Der Mensch ist dem Menschen eine heilige Sache. Jetzt erst beginnt eigentlich die Ethik im eigentlichen Sinne. Aber sie beginnt eben nicht zufällig erst jetzt. Denn erst die ökumenischen Dimensionen des Alexanderreiches mit seiner ihm eigenen hellenistischen Signatur lassen den Begriff der Menschheit und also den des Menschen Gestalt finden.

Und so können wir uns also auch nicht auf unseren zweiten Weg begeben, bei dem wir hätten voraussetzen müssen, daß es so etwas wie eine von sozio-kulturellen Faktoren abhängige Entwicklung ethischen Bewußtseins gar nicht gibt. Es gibt sie. Und in der Stoa wird an ihr noch etwas anderes deutlich: Es gibt sie gerade dort offensichtlich, wo die Frage nach dem Überleben des Einzelnen Antwort nur findet unter notwendiger Berücksichtigung anderen Lebens. Es ist paradox: aber der Begriff der Humanität ist kein ethischer Gipfelbegriff. Er wächst vielmehr in den Niederungen eines Weltreiches, das zur Solidarität zwingt. Wie denn ja auch der Begriff der Solidarität Leben erst erhält, wenn es ans Leben geht.

Dieser Gedanke stellt uns vor einen dritten Weg: Ethik als notwendende Übereinkunft zum Leben. Und jetzt schlägt auch die Stunde der Psychologen, der Verhaltensforscher, der Biologen, der Soziologen und also all jener, die mit der »Natur« des Menschen befaßt sind. Der Mensch als bio-psycho-soziales Wesen. Der hier Unkundige wird sich hüten, in ihm fremde Fächer einzugreifen und etwa zu fragen nach Instinkten und Affekten und Aggressionen und Chromosomenkonstellationen und genetischen Konditionierungen und deren Bedeutung für das Problem einer ethisch ausweisbaren Qualität menschlichen Koexistierens. Hier müssen wirklich Kompetente wirklich Kompetentes sagen. Aber sie müssen nun auch wirklich auf jene Fragen antworten, die gestellt wurden - nicht zuletzt von Philosophen und nicht zuletzt in der nachgerade klassisch gewordenen Kontroverse jener Positionen, die sich mit den Namen Thomas Hobbes und Anthony Shaftesbury verbindet.

Der 1679 verstorbene englische Philosoph Hobbes hat seine Zeitgenossen mit der aufregenden These in Atem gehalten, daß das, was den Menschen primär bestimme, sein Erhaltungstrieb sei. Diesem Egoismus würden sich letztlich alle Lebensäußerungen zu- und unterordnen. Selbst der Altruismus, die Zuwendung zum anderen, sei letztlich nur eine subtile Form des Egoismus. Homo homini lupus. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Und wo diese Menschen zusammenkommen, da gilt das bellum omnium contra omnes, der Krieg aller gegen alle. Der Mensch - so Hobbes - hat von Natur aus überhaupt keine Moral. Er will nur leben und überleben. Und dabei ist ihm jedes Mittel recht. Doch nicht jedes Mittel ist das richtige. Denn weil jeder Mensch einem jeden Menschen ein Wolf ist, ist jeder Mensch gezwungen, Kompromisse zu schließen, sich notfalls zusammenzuschließen mit anderen Wölfen, um zu überleben. Und diese Moral der Banditen sei die eigentliche Geburtsstunde der Ethik. Selbst eine so umfassende Institution wie die des Staates beruhe letztlich nur auf einer Übereinkunft, die das Ziel habe, die Menschen voreinander zu schützen. Doch innerhalb dieses Staates ist sich jeder selbst der Nächste, und die vielfältigen Formen der Moralität, der Beachtung bestimmter Sitten und Gepflogenheiten hätten nur den einen Sinn: dem einzelnen optimale Lebens- und Überlebenschancen zu sichern. Fiele dieser Sinn dahin, würden auch die Moralvorstellungen verfallen und höchstens noch als leere Konventionen überleben. Moral - so Hobbes - ist letztlich ein Interessenbegriff, der, konkret formuliert, ganz unterschiedliche Menschen zusammenbinden kann, sofern es in ihrem eigenen Interesse liegt. Die Moral der Banditen.

Eine gewagte, eine kühne, eine provozierende These, der denn auch prompt widersprochen wurde - mit besonderem Nachdruck von dem 1713 verstorbenen englischen Grafen Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper. Der Mensch - so Shaftesbury - ist von Hause aus kein Egoist. Im Gegenteil. Er ist seiner »Natur« nach ein Altruist und also das Gegenteil eines Egoisten. Gewiß, er ist egoistisch; aber letztlich fühlt er sich in diesem seinem Egoismus nicht wohl. Er will ihn überwinden. Und es reut ihn immer wieder aufs neue, so ichbezogen zu sein, dem anderen gegenüber lieblos und hartherzig. Und die Geburtsstunde des Moralischen schlägt nicht im bellum omnium contra omnes, sie bricht vielmehr dort an, wo der Mensch zu seiner eigentlichen Natur findet, zum Altruismus, zur Nächstenfreundlichkeit. Und wo diese öffentlich wird und die Gestalt von Konventionen annimmt, da entwickelt sich auch gesellschaftliche Moralität, und Ethik findet ihr Thema.

Winckelmann und Herder waren begeistert von dieser noblen Anthropologie, und Herders »Briefe zur Beförderung der Humanität« konnten gar nicht anders geschrieben werden denn unter Voraussetzung eines Menschenbildes, das die Humanität bereits bei sich trägt und nun nur noch zur Entfaltung gebracht zu werden braucht. In dieser Entfaltung legitimierte sich Geschichte. Ein großartiger, ein wunderbarer Gedanke, der sich dann doch in der Geschichte verlief, weil sich die Geschichte gegen ihn stellte. »Der Mensch ist gut« - so der protestierende Titel der berühmten Novellensammlung Leonhard Franks, die 1918 eben nur noch protestieren konnte - gegen die Ahumanität, ohne die Kraft zu haben, Humanität nun noch einmal begründen zu können. Dieser Krieg schien ein letztes Wort gesprochen zu haben: mit Hobbes, gegen Shaftesbury. Und es sollte danach noch dunkler werden.

Geschichtsphilosophie ist aber eigentlich kein Thema, denn es gibt keine Philosophie der Geschichte - wenn man nicht Hegel heißt. Aber Hegel läßt sich nicht nur vom Kopf auf die Füße stellen. Man kann ihn auch gänzlich zur Seite legen und damit der Frage entgehen, ob der im Verlauf der Geschichte wieder zu sich selbst findende absolute Geist nicht auch anthropologisch ausgelegt werden könnte: die Geschichte gesellschaftlicher Moralität als soziale Entwicklung und Entfaltung menschlicher Charakteristik. Jedenfalls hebt das Ineinander von Biogenese und Ontogenese eine solche Auslegung über den Rand einer bloßen Spekulation. Doch man muß es nicht mit Hegel treiben, wenn man das Einzelne ins Allgemeine zieht. Die Alternative »Hobbes oder Shaftesbury« steht so oder so. Und selbst wenn sie nicht als Alternative steht, steht doch die Frage nach dem Anteil des Bio-psychischen an dem, was wir Moral nennen. Und hier fallen Entscheidungen.

Freud entschied zugunsten der Libido und sah im Sexualtrieb das den Menschen auch in seiner Moralität entscheidend Bestimmende. Die Kultur des Ethischen entspringe den sich ins Äußerliche wendenden Triebsublimierungen, doch der sexuelle Regelungsmechanismus hinterlasse das bleibende »Unbehagen in der Kultur«. Auch wenn diese Libido-Theorie nur zu 20 Prozent gesichert wäre, es wären jene 20 Prozent, die bei der Frage nach der Ethik verrechnet werden müßten. Verrechnet ganz gewiß auch mit dem Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Menschen und seiner Moral. Aber 20 Prozent wären bedeutend. Und Ökonomen wissen davor zu warnen, den Außenhandel eines Landes möglichst nie über 20 Prozent mit nur einem Handelspartner abzuwickeln. Im Konfliktfalle nämlich könnte das die gesamte Volkswirtschaft ruinieren.

Diese Warnung ist lehrreich, denn Ethik entspringt dem Konflikt, und Moral ist nichts weniger als die Kultur der Konfliktbewältigung. Wo aber Konflikte bewältigt werden, da werden auch jene 20 Prozent zu einer Gewalt, die das ganze erschlagen können. Aktuell formuliert: Der Ausgang der politischen Krise in der DDR hängt zu 20 Prozent von den charakterlichen Qualifikationen der Politiker und also davon ab, ob sie in der Lage sind, Eigeninteressen gesamtgesellschaftlichen Perspektiven kategorisch unterzuordnen. Und dieser Satz gilt nicht nur für Funktionäre. Und er gilt auch - mutatis mutandis - für die Frage nach den wohlbekannten »subjektiven Faktoren« , die geradezu lebensgefährlich werden können, wenn sie die führende Rolle übernehmen.

Leider geht die Theorie des 1832 verstorbenen englischen Moralphilosophen Jeremy Bentham nicht auf, die da besagt, daß der persönliche Utilitarismus auch eine soziale Dimension habe. Nach Bentham steht der Mensch immer in dem natürlichen Widerspruch von Schmerz und Vergnügen, von Lust und Unlust. Und so fragt er natürlich in allem nach der utilitas, nach dem Nutzen, nach dem, was ihm nützlich ist, um einen möglichst hohen Lustgewinn zu erzielen und die Unlust so klein wie möglich halten zu können. Und - so Bentham - er sucht nicht nur sein eigenes Wohlergehen, sondern zugleich immer auch das Wohl der anderen, den Wohl-Stand des Ganzen.

Das ist zu schön, um wahr zu sein - selbst wenn man es in der Variante des 1790 verstorbenen englischen Ökonomen Adam Smith liest, der ganz pragmatisch argumentiert mit dem dictum: wenn es dem einzelnen gut geht, geht es allen gut. Diesem ökonomischen Optimismus ist es nicht gut ergangen. Und Smith hätte eigentlich schon bei Aristoteles mißtrauisch werden müssen, der ja auch nicht nur den Erfolg des einzelnen, sondern die Bilanz der Polis im Sinne hatte, die für ihn freilich nur aus Seinesgleichen bestand. Aber Jeremy Bentham ist wichtig, denn er schlägt die Brücke von der antiken griechischen Ethik in die Neuzeit. Und so ist es denn auch kein Vorwurf zu sagen, daß sein Utilitarismus so neu nicht ist. Die Alten unter den Griechen kennen ihn alle, denn sie identifizieren Ethik mit Eudämonismus, mit dem Streben nach Glückseligkeit; und die Nuancen liegen höchstens dort, wo ein Aristippos mehr auf den sinnlichen Lebensgenuß der Hedone setzt, ein Epikur mehr auf das Wohlbehagen des Geistes - und Aristoteles will möglichst beides haben, zudem noch Gut und Geld. Selbst Sokrates ist durch und durch ein Utilitarist - gewiß, nicht ohne Menschenfreundlichkeit; und diese ließe sich vielleicht auch bei Diogenes entdecken. Der Cyniker jedoch will eigentlich nur seine Ruhe.

Sie alle bleiben letztlich mit sich selbst beschäftigt, und wo die Frage nach der Tugend steht, dort steht ihr Ich an allererster Stelle. Egozentrisch ist diese Ethik, und ihre vier Kardinaltugenden (Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit), sie haben nur ein Ziel: die Ertüchtigung zu jenem Lebensgewinn, den sich der Einzelne zum Lebensziel gesetzt hat. Und sehr wohl wissen die Griechen dabei um die Bedeutung des Bio-psychischen, um die Macht des Fleisches, um die Zerbrechlichkeit der Seele. So wird die Tugendethik zum Kampfplatz des Geistes gegen die Affekte des Leibes. Die psyche wird trainiert gegen die Unwägbarkeiten der tyche, des Zufalls, des Mißgeschicks. Denn soviel ist ihnen klar: der gestaltete Erfolg beginnt erst dort, wo die Eigengesetzlichkeit des Natürlichen endet und beherrscht wird im Interesse jener Konfliktbewältigung, die Moral nicht zur Voraussetzung, wohl aber zum Ergebnis hat.

Und damit wären wir wieder bei Hobbes und also bei dem Menschen, der letztlich nur um sich selbst kreist und sich als In-dividuum moralisch nur in seinen Kreisen hält. Denn Moral ist die Kultur der Konfliktbewältigung. Der Konflikt zwingt zur Moral, zur Übereinkunft, zur Anpassung. Nietzsches Herrenmensch steht denn auch »jenseits von Gut und Böse«. Die »blonde Bestie« will nicht den Kompromiß. Der Schwächere muß sterben. Der Wille zum Leben kennt nur sich selbst. Hitler liebte Nietzsche, und Nietzsche studierte die Sophisten, jene vorsokratischen Griechen, die ganz dezidiert der Meinung waren, Moral sei nur das formulierte Recht des Stärkeren und Unmoral ein Offenbarungseid der Schwäche. Der Starke nur diktiere das Gesetz der Sitte.

Mit diesem Satz war Wesentliches ausgesprochen. Und der Erkenntniszuwachs darf nicht schon deshalb geleugnet werden, weil ein Nietzsche ihn brutalisiert hat. Die Sophisten sind die ersten Moral-Theoretiker. Und die Moral ihrer Theorie gipfelt in der These: Eine Moral, die »es gibt« , gibt es nicht. Das könnte sagen: Moral ist nichts Vorgegebenes, sie ist dem Menschen nicht eingegeben und mitgegeben. Sie entsteht - im jeweils gegebenen Konflikt des Miteinanders. Und sie muß entstehen, weil der einzelne zur Koexistenz gezwungen ist, wenn er als einzelner überleben will. Und so entsteht sie vielschichtig und vielgesichtig auf all jenen Lebensebenen, auf denen der Mensch immer zugleich steht: als Staatsbürger und Mitbürger, als Familienangehöriger und Klassenzugehöriger, als Berufsständischer und Standesgebundener. Und das Leben hat denn auch für jeden Lebensstandard eine Moral erzwungen, die man nun sogar in Bücherschränke stellen kann. Und die Titel heißen dann: »Politische Ethik«, »Sexualethik«, »Individualethik«, »Sozialethik«, »Standesethik«, »Staatsethik«, »Wissenschaftsethik«, »Wirtschaftsethik«, »Berufsethik«, »Gesinnungsethik«, »Wertethik« ... Der Bücher sind Legion, und doch gehören sie in einen Bücherschrank - unter die Signatur: »Konfliktbewältigung«. Denn ihnen allen liegt die Kollision zugrunde, der Widerspruch der Interessen, einzelner und vieler. Und die Moral beginnt nun dort, wo Kain den Abel nicht erschlägt, weil Abel selbst zu mächtig ist, und Kain nicht ohne Abel überleben kann. Moral ist niemals selbstlos. Der Selbstlose moralisiert nicht. Doch wahr ist auch, daß man nicht zwei Bücher zugleich lesen kann. Und so kann es geschehen und so geschieht es denn auch, daß in Sachen Ethik und Moral die Lebensebenen nicht konvergieren. Moral ist immer konkret, denn Konflikte haben Konkretion. Es gibt nicht den Moralischen. Es gibt nur Dimensionen der Moralität, die der Polyphonie des Lebens erwachsen und also der Vielfalt des Widerspruchs, der je und je mitgeprägt wird von jenen bio-psychischen Konditionierungen, die sich als die »Natur« des Menschen zu Sprache bringen.

Exempel: Wiewohl Moral und Bildung nicht zu trennen sind und Graduierungen hier ganz entscheidend wirken - Bildung bleibt gebunden an das Maß des Intellekts. Die Natur setzt Grenzen, gründet Unterschied. Und dieser trägt sich aus - nicht nur dort, wo Moral zum Ereignis wird, wo der Konflikt lebendig ist. Aber dort nun gerade auch, denn Konflikte werden nicht nur erfahren, sie müssen auch erkannt werden. Interesse ist nicht erkenntnisindifferent - mithin auch nicht Moral. Das wußte schon Sokrates, daß Interessen erkannt sein wollen - gerade auch die eigenen. Und hier fällt Bildung ins Gewicht - so weit wie möglich. Aber Konflikte bleiben nicht immer aktuell. Sie werden überwunden. Und zurück bleibt Konvention und also die Kultur der Konfliktbewältigung. So entstehen Sitten und Gebräuche. Sie wirken harmlos, weil sie den Konflikt schon überwunden haben. Doch ihnen eignet eine Vorsicht, die zur Rücksicht zwingt. Konventionen sind die Enkelkinder der Moral. Und mancher meint, Moral bestünde eigentlich nur aus den Enkeln. Sittlichkeit und Konvention: die ins Künftige gerettete Erinnerung an Kollision, die einstmals an das Leben ging und nunmehr Umsicht strikt gebietet. Das hat vieles für sich, und sicher greift die Bildung hier entscheidend ein, so weit wie möglich. Denn Bildung ist auch dieses: befestigte Erinnerung an die Gewalt des Ursprünglichen. Hier siedelt denn auch Weisheit, kollektives Wissen, selbst das Moment der Prophetie bekommt hier einen Platz, und auch der Mythos trägt Erkenntnis ein. Diese Bildung ist die Zwillingsschwester der Moral. Sie weiß um die latente Aktualität der Tradition und Konvention, denn sie weiß um den Ursprung der Moral. Sie kennt noch den Konflikt, der jederzeit zu neuem Ausbruch kommen kann. Diese Bildung geht auf die Geschichte, weil es ihr um Zukunft geht. Auch Bildung ist nicht selbstlos. Sie hat das Leben im Sinn. Und Allgemeinbildung bekommt heute mehr und mehr den Sinn, das Leben überhaupt zu sichern: das Menschheitsüberleben.

Die drei zentralen Fragen Kants müssen heute neue gebildet werden, wenn unser Menschheitsüberleben nicht in Frage gestellt bleiben soll. Bei Kant klingt das noch sehr vereinzelt: »Was kann ich wissen?« - »Was soll ich tun?« - »Was darf ich hoffen?«. Schon die erste Frage wird entscheidend: »Was kann ich wissen?«. Wenn unser Wissen heute versagt und wir um die globalen Menschheitsgefährdungen nicht wissen oder höchstens darum wissen, daß andere um sie wissen, dann steht - mehr früher als später - die Gattung Mensch zur Disposition. Und nicht nur sie. Dann ist nicht nur tabula rasa, dann ist terra rasa angesagt. Wir stehen vor einer ethischen Entscheidungsfrage: »Was kann ich wissen?«. Und schon brechen die Anfragen auf, die skeptischen: ob die Natur und also die Beschränktheit unserer Intelligenz jenes Maß an Allgemeinbildung zuläßt, das nötig wäre, um diese neuen Dimensionen zu erkennen - und nicht nur in abstracto. Ob unsere Bildung ausreicht, um diesen völlig neuen Gewalten widerstehen zu können. Ob unser Denken auf Elemente zurückgreifen kann, die für das heute gebotene »neue Denken« konstitutiv sein können. Und das ist vielleicht die entscheidendste Frage, denn ein »neues Denken« ist nicht einfach das Gegenteil des »alten Denkens«.

Wäre dem so, dann hätten wir keine Probleme, denn das bloße Gegenteil hat ja durchaus auch seine Geschichte. Heute aber geht es um eine neue Qualität des Denkens, an der gemessen traditionelle Bildung zu bloßer Einbildung wird. Zur Einbildung etwa, daß wir mit unseren traditionellen Moralsystemen, mit der in der Vergangenheit durchaus ja auch bewährten Weise der Konfliktbewältigung die anstehenden Menschheitskonflikte bewältigen könnten.

»Was kann ich wissen?« Das ist nicht zuletzt die Frage nach der Priorität unserer Interessen: gnothi seauton, des Sokrates moralische Maxime, entliehen dem Orakeltempel zu Delphi. Mensch, erkennen dich selbst! Erkenne das, was für dich wirklich nützlich ist. Dieser Utilitarismus hat heute eine gattungsgeschichtliche Perspektive bekommen. Aber haben wir schon den Gattungsbegriff »Mensch«? Oder stehen wir noch immer bei Immanuel Kant und der bereits heute unzulänglichen Fassung der Frage »Was kann ich wissen?« Der notwendige Gestaltwandel vom Singular zum Plural dürfte denn auch jene Antwort beinhalten, die auf Kants zweite Hauptfrage heute zu geben ist: »Was soll ich tun?« Antwort: Ich soll alles tun, damit das Ich zum Wir wird. Das meint mehr als nur die Addition der Gleichgesinnten. Das zielt auf Gesellschaft und Politik, und das alte Wort vom Sozialismus bekommt hier neue Dringlichkeit. Nun erst recht! Es ist ja kein Zufall: »kapitalistische Moral« - allein das Wort gleicht einer contradictio in adjecto, einem Widerspruch in sich selbst. So kommt das Wort auch nirgends vor. Es kann nicht einmal sprachlich existieren. Das sollte uns mutig bleiben lasen für das neue Wort von der Gemeinsamkeit. Und wenigstens die Utopie muß hier real sein und Vision begründen helfen und pure Illusionen widerlegen. Denn soviel können wir schon heute wissen: Wenn diese Kommunität nicht gelingt, verlieren wir die Gattung »Mensch«, und ihr Begriff wird niemals wirklich definiert.

»Was dürfen wir hoffen?« Relativ wenig, was den Namen »Hoffnung« wirklich auch verdient. Denn Hoffnung gründet auf Erfahrung. Die haben wir gesammelt, durch Jahrtausende. Geschichten vom Wolf - und von der Wölfin, die ihre Jungen liebt, die ihre Jungen lieben. Homo homini lupus. Da steckt auch Hoffnung. Und Plötzlich wird das Ego zu einer neuen Macht, die überleben will - selbst um den Preis, kein In-dividuum zu bleiben, die Welt als unteilbar zu sehen und also Welt zu teilen. »Was dürfen wir hoffen?« Erstens: Daß der Egoismus des Menschen größer ist als die Intelligenz der Dinosaurier. Zweitens: Daß dieser Egoismus und mit ihm die Triebfeder aller Moral und Ethik nicht versagt. Drittens: Daß der Satz »Jeder ist sich selbst der Nächste« gültig bleibt und zu der Überlebenseinsicht zwingt, daß jeder nur dann sich selbst der Nächste bleiben wird, wenn er jeden zum Nächsten werden läßt.

Diese Hoffnung ist nicht ganz unbegründet, auch wenn diese Überlebensethik zur Zeit noch reines Hoffen ist, das freilich Wurzeln hat, die weit zurückreichen, hinreichen in das Weltreich des Alexander, das zum Kosmopolitismus zwang, zum Bewußtsein eines Weltbürgertums, und aus der Not heraus den Begriff der Menschheit formulierte: he anthropotes. Hier müßte Bildung heute wieder Wurzeln schlagen um jener Ethik willen, die Überlebensethik werden muß.

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KOPERNIKUS UND DIE FOLGEN

Vom Verlust der Mitte und dem Versuch der Aufklärung, sie wiederzufinden

[in: Weißenseer Blätter 4/1990, S. 10-25. Die Überschrift setzte die Redaktion der WBI. Nur der Untertitel stammt vom Autor. Unter ihm faßte er drei Vorlesungen zusammen; deren erste bringen wir ganz. Aus der zweiten, die sich vor allem mit speziellen Fragen der Theologiegeschichte im Zeitalter der Aufklärung befaßt, nur wenige Auszüge. Die dritte Vorlesung wurde geringfügig gekürzt.]

Aufklärung zielt auf Klärung. Es ist fast unmöglich, an diesem Wortspiel vorbeizukommen, ohne sich seiner zu bedienen. Und doch ist es nicht ratsam, hier halt zu machen. Natürlich will die Aufklärung auch klären und erklären: aber das wollte die Scholastik nicht minder. Gerade sie ist es nun aber, gegen die sich das Prinzip »Aufklärung« mit Sturm und Drang zu behaupten versucht, indem sie jenes Denken enthauptet, das in seinen Grundsätzen einer petitio principii verpflichtet bleibt: also jener Voraussetzung, die eigentlich erst im Ergebnis bewiesen und erklärt werden soll, aber heimlich oder auch ganz offen doktrinär bereits im Ansatz mitgesetzt wird. Beweisen Sie, daß Gott das summum esse ist! Aber wer sagt uns denn, daß das Sein Gottes dem menschlichen Verständnis von Sein kommensurabel wird? Das hier Beweise ihr Ziel überhaupt je erreichen können? Die petitio principii bleibt von einem solchen Einwand unbeeindruckt. Sie hat ein stärkeres Argument, und dieses heißt: Autorität. Autorität der Tradition, Autorität des Lehramtes, eben: kirchliche Autorität, die sagt, was der Satz vom Grund besagt. Sie gründet Sätze, ohne zu begründen.

Genau dieses aber will die Aufklärung nicht länger gelten lassen. Sie verbietet sich und anderen Begründungslosigkeit. Doch dazu gehört Mut - sogar noch am Ausgang des 18. Jahrhunderts.

Als in der von Gedike und Biester herausgegebenen »Berlinischen Monatsschrift« 1783 zur Beantwortung der Frage »Was ist Aufklärung« aufgefordert wird, verfaßt auch Immanuel Kant im September 1784 einen Artikel, dessen Definition von »Aufklärung« nachgerade klassisch wurde: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.«

Kant wußte, wovon er sprach, wenn er so dezidiert auf Mut meinte insistieren zu müssen. Denn die Geschichte der Aufklärung war zugleich und in einem auch die Geschichte spektakulärer Bücherverbrennungen und Verfolgungen. Nicht wenige englische Deisten bezahlten ihre bibelkritischen Diskurse mit Pranger und Gefängnis. Und das zunächst mit Stolz getragene Wort vom »freethinking« wurde alsbald denunziert. Wer Freidenker war, der stand schon im Verdacht, ein Atheist zu sein, und Atheisten sind halt schlechte Menschen, denn sie rühren an die Grundfesten der Kirche, der Gesellschaft. Kein Wunder also, daß mancher von ihnen sich bewußt bemüht, diesem Verdikt zu entgehen, um einfach weiter frei denken zu können. John Tolands 1696 erschienenes Buch »Christianity not mysterious« wurde in Dublin noch von des Henkers eigener Hand dem Scheiterhaufen anvertraut. Der Grund ist plausibel: wer alle Offenbarungsautorität in Frage stellt und lediglich die Vernunft zur letzten Instanz der Religion erhebt, wer alles Zeremonielle und Dogmatische eliminiert wissen will zugunsten eines rein sittlich-ethischen Christentums, frei von allem Geheimnisvollen, Christianity not mysterious, der schürt den Aufruhr, untergräbt das königliche Priesteramt, macht Priester überflüssig, also auch die Kirche - und dann mit ihr wohl auch den Thron. Das darf nicht sein. Um Gottes Willen: nein! sagt Toland plötzlich selber, so war das nicht gemeint. Das Volk, das braucht natürlich Tradition und Offenbarung. Dem Volk muß Religion schon bleiben. Da hat der Henker Recht. Doch die Gebildeten, die Herrschaft also, hat ein Recht auf freies Denken.

John Toland ist kein Einzelfall. Andere haben sogar ihr ganzes Werk widerrufen, Giordano Bruno bekanntlich nicht. Dafür wurde er 1600 noch verbrannt - ad majorem Dei gloriam. Galilei hingegen wollte überleben, wie andere auch. Kaum war 1758 Helvetius' großes Werk »Vom Geist« erschienen und auf heftigste Kritik französischer Jesuiten gestoßen, da widerrief der Verfasser gleich zwei Mal. Man hat gesagt, dieses wäre nicht notwendig gewesen, denn schon den ersten Widerruf habe kein Eingeweihter wirklich geglaubt. Doch notwendend war es wohl. Helvetius selbst war Höfling und unverhältnismäßig reich. Die Verdammung seines Buches durch Papst Clemens XIII. hätte ihn - ohne Widerruf - wenigstens seine Güter gekostet.

Da wurde Erinnerung wach. Nicht zuletzt an das Schicksal Francis Bacons, dessen glänzende Karriere als Großsiegelbewahrer und Lordkanzler unter Jakob I. 1621 jäh abbrach und mit dem Verlust aller Staatsämter endete. Natürlich waren da auch Ränke und Intrigen mit im Spiele. Bacon selbst war viel zu ehrsüchtig und skrupellos, als daß diese hätten ausbleiben können. Aber die Antwort auf die Frage, warum Jakob gerade ihn dem Parlament preisgab, kommt nicht an Bacons Materialismus vorbei, der ihn zum Stammvater der englischen Aufklärung werden ließ, zum »Heerführer aller Erfahrungsphilosophie« wie Hegel ihn einmal nennt. Jedenfalls ist Bacons Schicksal symptomatisch.

Anderen erging es kaum anders. Als Baruch Spinoza 1677 stirbt, hat er den großen Bannfluch der Amsterdamer Synagoge bereits hinter sich. Doch die Gläubigen, die sein »deus sive natura« nur mit Entsetzen auszuhalten vermögen, setzen, ihm zum Hohn und der Nachwelt zur Belehrung, ein eigenes Epitaph, auf dem zu lesen ist: »Spei auf dies Grab! Hier liegt Spinoza. Wär sein Wort / Doch mit verscharrt. Es fräß die Seelenpest nicht fort.«

Ein Rousseau hatte es da wenigstens nach seinem Tode besser. Er wurde als der Philosoph der Revolution gefeiert, die er selber nicht mehr mitfeiern konnte.

Dafür aber mußte er erleben, daß seine Werke in Paris und Genf denunziert und eskamotiert wurden. Dabei ist Rousseau kein Aufklärer prononciert materialistischer Provenienz, ganz im Gegenteil: Helvetius ist ihm eine Anfechtung. Und er schreibt nur deshalb nicht öffentlich gegen ihn, weil auch er verfolgt und geschmäht wird.

Überhaupt ist Rousseau die Aufklärung nicht das nun plus ultra. Aufklärung an sich ist für ihn kein absoluter Wert. Denn sie habe keinen Sinn, wenn durch sie die Reichen nur noch gebildeter würden und sich nun auch noch die intellektuelle Distanz zu den Armen vergrößere. Aufklärung im eigentlichen Sinne ist für Rousseau gesellschaftlich-soziale Veränderung. Das mußte man ihm verübeln, zumal er hierbei äußerst pointiert zu deklamieren wußte: »Der erste, der ein Stück Land umzäunte und sich erkühnte zu sagen, dieses gehört mir, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, war der eigentliche Begründer der Gesellschaft. Welche Verbrechen, wie viele Kriege und Greuel, wieviel Elend hätten dem menschlichen Geschlecht erspart bleiben können, wenn einer die Pfähle ausgerissen, den Graben zugeschüttet... hätte.« Mit diesem Fanal beginnt der zweite Teil der »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« von 1755. Rousseau hatte diese Schrift als einen Beitrag zu der von der Akademie von Dijon ausgeschriebenen Preisfrage verfaßt: »Welchen Ursprung hat die Ungleichheit unter den Menschen, und ist sie durch das Naturgesetz gerechtfertigt?« Im Rückblick reflektiert er dieBrisanz dieses Themas und bemerkt dazu: »Von dieser großen Fragestellung betroffen, war ist überrascht, daß die Akademie es gewagt hatte, sie aufzugeben; doch da sie diesen Mut gehabt, konnte ich wohl auch den haben, sie zu behandeln.«

»Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« Kant mußte kaum noch Mut in diesem Sinne aufbringen. Er hatte schließlich Friedrich II. zum König, den er in besagtem Artikel »Was ist Aufklärung?« geradezu überschwenglich lobt. Das Zeitalter der Aufklärung sei identisch mit dem »Jahrhundert Friedrichs« - Friedrich selbst fast schon ein Inbegriff für Aufklärung. Aber Kant wäre nicht Kant, wenn er hier verklären wollte. Denn dieses sieht auch er ganz nüchtern und pragmatisch: »Aber auch nur derjenige, der selbst aufgeklärt, sich nicht vor Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldiszipliniertes zahlreiches Heer hat, - kann das sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf: räsoniert so viel ihr wollt und worüber ihr wollt, nur gehorcht!« An die politische Substanz darf die Aufklärung natürlich nicht gehen.

Im Unterschied zu Frankreich wußten das die deutschen Aufklärer sehr wohl zu beachten. Radikalität ist ihre Sache denn auch nie gewesen. Die deutsche Aufklärung bleibt dogmatisch: Theoriegewinn ohne Machtverlust der Mächtigen. Nur wenige haben sich an diese Übereinkunft nicht gehalten. Und so geht beides sehr wohl zusammen: Kants Eloge auf den Philosophenkönig, intellektuellen Mäzen Voltaires, und das harte Urteil Lessings in einem Brief an den Verleger Christoph Friedrich Nicolai vom 25. August 1769: Preußen sei das sklavischste Land in Europa. Wer solches gar zu laut, zu oft herausposaunte, der wurde einfach ausgegrenzt, unter Friedrich II. schon, noch mehr erst unter II. Friedrich Wilhelm. So geschehen an dem Neologen Carl Friedrich Bahrdt, der als Theologieprofessor begann und 1792 als Gastwirt in Halle endete. Er wollte nicht nur die Trinitätslehre abgeschafft sehen, sondern zudem auch den Königsthron. Jedenfalls ambitionierte er in dieser Richtung und wollte »das Bücherlesen ... bis in die Hütten des Volkes ... verbreiten.« »Friede den Hütten, Krieg den Palästen« - Georg Büchners »Hessischer Landbote« von 1834 ließ da schon vorab grüßen. Doch immerhin: Bahrdt wurde nur zum Gastwirt degradiert, aber Zeitgenossen wußten schon zu berichten, daß er natürlich - was denn sonst? - ein Trunkenbold und Weiberheld gewesen. Das Zeitalter der Aufklärung kennt sehr wohl die klassischen Formeln der Ketzerbekämpfung.

Vielleicht war dieses sogar der eigentliche Grund für Rousseau, sich in seinen »Confessiones« gleich selber zu denunzieren. Da kam der Gegner nur noch schwer an ihn heran, denn alles war Zitat und Selbstdarstellung. Ihm konnte man die amourösen Abenteuer nicht nachtragen. Die waren schon eitel gestanden. Aber mutig waren die »Bekenntnisse« dennoch, denn hier wurde ein Publikum aufgeklärt über die geheimsten Verästelungen einer schonungslosen Selbstbetrachtung. Die Totalität der Leibniz'schen Weltanschauung schlägt bei Rousseau um in die totale Ausleuchtung des Mikrokosmos »Mensch«.

Der Mensch, er ist nun allemal das eigentliche Thema der Aufklärung. Darin sind sich alle einig, in Frankreich und in Deutschland. Nietzsche hatte Recht, auch wenn es zynisch klingen sollte: Gott starb an Aufklärung. An die Stelle des theos, an die Stelle Gottes trat der anthropos, der Mensch. Mit Kopernikus war diese Wende faktisch vollzogen. Nun drehte sich die Erde um die Sonne - und die Frage wurde dringlich: was ist dann noch der Mensch, der durchs All Geworfene? Wo bleibt sein Halt, wenn nicht in ihm selbst?

Als Kopernikus auf seinem Totenbett am 24. Mai 1543 das frisch gedruckte Exemplar seines großen Werkes »De revolutionibus orbium coelesticum« in den Händen hält, zerbricht ein Weltbild, das hunderte von Jahren standhielt und dem Menschen einen sicheren Ort gewährte: inmitten der sonnenumkreisten Erde, von Sternen beschirmt, auf festem Grund, eingeschlossen von Himmel und Meeren.

Das war gerade nicht die Zeit der reinen Anthropologie, auch wenn sich faktisch alles um den Menschen drehte. Gerade weil sich letztlich alles um ihn dreht, muß er nicht um sich selber kreisen. Erst als dieser Mutterschoß der Erde aufbricht und nun die Sonne selbst den Mittelpunkt besetzt, bricht auch ein neues Fragen nach dem Menschen auf, der sich nun behaupten muß in seiner neuen Existenz am Rand des Universums. Diese zu bejahen, dazu braucht es Mut, der kaum ein Vorbild hat - eben jenen Mut der Aufklärung, der mehr ist als der bloße Widerspruch zur Tradition, das Räsonieren gegen Standesdünkel, gegen Herrschaftsanspruch, gegen Dummheit und Verlogenheit. Es ist der Mut, der geradezu als Übermut gefordert ist und: aus der Not geboren wird.

Denn dieses muß man sehen: der überschwengliche Optimismus de 18. Jahrhunderts verdankt sich nur zum einen der ökonomischen Prosperität von Wissenschaft und Technik, mit der die Bourgeois dem Adel und der Kirche trotzt und aus dem alten Stand sich in den neuen bringt. Unbestreitbar verdankt er sich auch diesem. Und hier geht es denn auch sehr nüchtern und pragmatisch zu.

Dazu lese man Ernst Troeltsch in der alten »Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche« zum Stichwort »Aufklärung«: »Die Aufklärung ist Beginn und Grundlage der eigentlich modernen Periode der europäischen Kultur und Geschichte im Gegensatz zu der bis dahin herrschenden kirchlich und theologisch bestimmten Kultur, gegen die sich bereits seit Ausgang des sog. Mittelalters lebhafte Gegenströmungen erhoben hatten.« »Die Technik zog die Wissenschaften in ihren Dienst und verbreitete dadurch das Bündnis der erwerbenden Klassen mit den neuen Wissenschaften, während die privilegierte officielle Wissenschaft sich immer mehr vom Leben entfernte. Die notwendige Folge hiervon war aber ... die eben damit eintretende oder doch angebahnte Nivellierung auf geistigem und religiösem Gebiet, die Entbindung des Freiheits- und Selbständigkeitstriebes überhaupt, Mischung und Ausgleich der Bevölkerung und damit zugleich die Forderung geistiger und religiöser Toleranz.«

Der Theologe und Geschichtsphilosoph Ernst Troeltsch wurde eben dadurch berühmt (und für manche auch berüchtigt), daß er die Bewegung des Geistigen stets hineinzeichnete in den ökonomischen Unterbau gesellschaftlicher Entwicklung. Auch für die Religion galt ihm - so in dem epochalen Werk von 1912 »Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen« - »daß in dem Kausalzusammenhang, aus dem heraus ... religiöses Denken Anstoß, Form, Bewegung und Ziel konkret gewinnt, immer in größerer oder geringerer Stärke, in mittelbarer oder unmittelbarer Weise soziale und durch diese vermittelt schließlich auch ökonomische Kräfte wirken.« Da gibt es also gar keinen Zweifel: Aufklärung und bürgerliche Revolution bedingen einander geradezu. Im Optimismus der Aufklärung feiert sich der nahe Sieg der neuen Klasse.

Das Kapital weiß schon um seine unbegrenzten Möglichkeiten, weiß um Entwicklung, Perspektive, Zukunft. Da bringt sich gleichsam Gründerjahreuphorie zur Sprache. Alles wird prometheisch, alles wird machbar - selbst die Erziehung des Menschengeschlechts. »Fortschritt«, so heißt das große Wort, bei dem der Adel nur mühsam sein Entsetzen verbergen kann. Er darf nur noch halten und verhindern - gestalten kann er nicht mehr. Für ihn ist Zukunft höchstens noch der Status quo der Gegenwart, die noch immer ganz feudal auch ausgeschritten wird. Aber Pläne kann er nicht mehr schmieden, es sei denn: er konvertiert zum »Dritten Stand«, streift den Adel ab und wird Gesinnungsbürger und also: Fabrikant.

Doch daß die Fabriken die Promotoren des historischen Optimismus sind, das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit, zu der nun auch die andere gehört, daß dieser Optimismus nämlich aus der Not geboren wird: Die Aufklärung als der Prozeß der ermutigenden Vergewisserung, daß die kopernikanische Wende, die die Erde und ihren Menschen aus dem Zentrum verwies und an die Peripherie delegierte, diesen Menschen dennoch nicht aus seiner Bahn zu werfen vermöchte. Das war ein Kraftakt ohnegleichen. Und hier entschied sich faktisch alles. Denn aller Renaissance zum Trotz, die revolutionäre Enthüllung des Kopernikus, daß sich nicht die Sonne um die Erde und den Menschen, sondern die Erde und letztlich alles um die Sonne dreht, diese Entdeckung machte den Menschen mit einem Schlage zu einem Nichts, zu einem Punkt im Universum. Genau dieses ist ja die atemberaubende Spannung in der vielleicht sogar unvergleichlichen Leistung des Kopernikus: Hier wird im Kampf des Menschen mit der Natur Natur besiegt durch Naturerkenntnis - und das um den Preis, sich der Natur nur um so unterlegener zu sehen, sich völlig abhängig zu wissen von Kräften und Gewalten, deren Ewigkeit der Rotation ein Menschenleben nachgerade zum Beiwerk degradiert. Der das Geheimnis aufbrechende Blick in die Wirklichkeit der Natur gebar mit dem Erkenntnisgewinn zugleich auch Existenzverlust, den Verlust der Mitte. Aus dem Zentrum des ptolemäischen Weltbildes herausgeworfen, an die Peripherie des kopernikanischen Sonnensystems verbannt, mußte alles Fragen nach dem Menschen und seiner Welt einen völlig neuen Standort finden, denn nun galt nicht mehr, was zuvor gedacht und als beständig angenommen wurde.

Kein Wunder also, daß sich die Kirche gegen diese kopernikanische Wende vehement zur Wehr setzte. Es blieb ihr ja nichts anderes übrig, wollte sich nicht alles in Frage stellen lassen. Noch Galilei wurde 1633 von Rom zur öffentlichen Revokation gezwungen, nachdem Johannes Kepler, der 1588 in Tübingen zunächst den theologischen Magistergrad erworben hatte, nach der Veröffentlichung seiner Kopernikus bestätigenden und präzisierenden »Astronomia nova« von 1609 mit Billigung seiner ehemaligen Tübinger Lehrer vom Abendmahl ausgeschlossen worden war. Doch da war es schon zu spät. Der Heliozentrismus ließ sich nur noch leugnen, widerlegen ließ er sich nicht mehr, auch wenn mit ihm das vertraute Weltgefühl zusammenbrach, das zu erhalten und zu bewahren zur obersten Mission der Kirche wurde, ja: werden mußte. Sie konnte ja gar nicht anders als konservativ sein. Ihre Autorität stand auf dem Spiel. Aber nicht nur das. Sie mußte sich - ob sie es wollte oder nicht - zum Konservator des Ptolemäus machen, nicht aus Bosheit oder bloßer Ignoranz, sondern aus Ratlosigkeit, aus echter sogar.

Das klingt bei Brecht und seinem Galilei durchaus auch an, diese wirkliche Ratlosigkeit, die nicht nur kokettiert und grollt, sondern in der Tat nicht weiß, wie der Mensch Mittelpunkt der Erde bleiben soll, wenn die Erde nicht mehr Mittelpunkt des Universums ist. Der »sehr alte Kardinal« bekommt von Brecht den Text und spricht: »Ich höre, dieser Herr Galilei versetzt den Menschen aus dem Mittelpunkt des Weltalls irgendwohin an den Rand. Er ist folglich deutlich ein Feind des Menschengeschlechts. Als solcher muß er behandelt werden. Der Mensch ist die Krone der Schöpfung, das weiß jedes Kind. Gottes höchstes und geliebtestes Geschöpf. Wie könnte er es, ein solches Wunderwerk, auf ein kleines, abseitiges und immerfort weglaufendes Gestirnlein setzen?« »Sie wollen die Erde erniedrigen, obwohl Sie auf ihr leben und alles von ihr empfangen. Sie beschmutzen Ihr eigenes Nest! Aber ich jedenfalls lasse es mir nicht gefallen. Ich bin nicht irgendein Wesen auf irgendeinem Gestirnchen, das für kurze Zeit irgendwo kreist. Ich gehe auf einer festen Erde, in sichrem Schritt, sie ruht, sie ist der Mittelpunkt des Alls, ich bin im Mittelpunkt, und das Auge des Schöpfers ruht auf mir allein. Um mich kreisen, fixiert an acht goldenen Schalen, die Fixsterne und die gewaltige Sonne, die geschaffen ist, meine Umgebung zu beleuchten. Und auch mich, damit Gott mich sieht. So kommt sichtbar und unwiderleglich alles an auf mich, den Menschen, die Anstrengung Gottes, das Geschöpf in der Mitte, das Ebenbild Gottes, unvergänglich und ... Er sinkt zusammen« (so Brechts Regieanweisung).

Das ist genau die Katastrophenstimmung, um die man wissen muß, wenn man wissen will, was Aufklärung heißt, die nun eben nicht im Triumph geboren wird, sondern durchaus unter Schmerzen - doch mit dem Mut: die Not zu wenden nach der Wende des Kopernikus. Und nun kann man schon zu verstehen beginnen, warum dann ein Leibniz trotzalledem die »prästabilierte Harmonie« behauptete und Gottes Schöpfung allem zum Trotz zur »besten aller möglichen Welten« erklärte und an der Theodizee, an der Gerechtigkeit Gottes, keinen Zweifel zulassen wollte.

Und Rousseau? Gerade was nach Kopernikus gegen die klassische Schöpfungsidee zu sprechen scheint, das wendet er zum Argument: Natürlich dreht sich die Erde um sich selbst, ist das Universum in Bewegung. Aber was widerlegt das? Im Gegenteil: Es bezeugt doch nur die Einzigartigkeit des Willens und der Weisheit Gottes, der dieses alles so geplant, geordnet hat und schließlich auch bewegt. Die neuen Dimensionen des Weltalls sprechen nicht gegen, sie weisen auf einen Weltenlenker - wie sonst wäre das Wunder der Natur zu begreifen, zu erklären? Hier schlägt das eigentliche Herz der Religion.

Einer Religion natürlich, die dann auch bei Lessing nicht eigentlich mehr die »christliche Religion« ist, auf Offenbarung gegründet, in Tradition gebettet und durch Bibel und Dogma erhärtet. Eher eine Religion, die jeder haben kann, der nur ein wenig von seiner Vernunft Gebrauch macht. Denn - so Lessing im §4 der »Erziehung des Menschengeschlechts«: Die Offenbarung gibt »dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde«, »sie gab und gibt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher«. Dann allerdings ist Toleranz angesagt, denn wer wollte nun bestreiten, daß die Vernunft auch bei dem Juden, bei dem Moslem wohnt.

Wo immer der Aufklärung Religion zum Thema wird, da spiegelt sich jenes Selbstverständnis, das die heliozentrische Wende bereits hinter sich hat und nun im Begriff ist, sich neu zu behausen, den Mittelpunkt wiederzufinden, den die Erde abtreten mußte. Die Religion wird dabei höchst funktional - oder auch funktionslos, je nachdem.

Beide Linien haben sich in die Geschichte eingeschrieben: der rationale Bruch mit allem, was an Gott und Religion auch nur erinnert, und daneben die große Akkommodation der Religion, die Anpassung des religiösen Erbes an das neue Selbstbewußtsein, das weniger auf Apologie aus ist, aber eben darauf, alles und also auch die Religion zu nutzen, um den neuen Ort des Menschen erträglich einzurichten.

Für das erste steht das spröde Wort vom Materialismus. Und für diesen stehen Namen wie Spinoza, Hobbes, Helvetius. Viele der französischen Enzyklopädisten haben hier ihren philosophischen Ort, wenngleich sie sich in Sachen »Atheismus« spürbar bedeckt zu geben versuchen, zwar alles zersetzen, doch nur selten ganz aufrichtig leugnen. Das wäre auch gefährlich gewesen. Und als im Januar 1752 der 2. Band der Diderotschen Enzyklopädie erschien, wurde er auch prompt auch Befehl seiner Majestät des Königs verboten, obwohl dort - zum Stichwort »Atheisten« - noch zu lesen war, daß der Atheismus der Unwissenheit und Dummheit entspringe. Doch für die Religion spreche eigentlich nur, daß man mit ihr ein Volk wirksam von Verbrechen abschrecken könne. Dieser Pragmatismus wußte sehr wohl um die zu erwartenden Einwände der Politik. Und er trug dem Rechnung. Aber daran bestand schon längst kein Zweifel mehr: die in besagtem Artikel als »theoretische Atheisten« Bezeichneten: Protagoras, Demokrit, Epikur, Averroes, Hobbes, Spinoza - sie alle sind natürlich ehrenwerte Leute, die im Prinzip - im philosophischen - natürlich Recht behalten. Doch welch ein Umstand: Ausgerechnet der Madame de Pompadour, der Mätresse Ludwigs XV., verdankte die Enzyklopädie ihr weiteres Erscheinen.

Übrigens kann man ganz Ähnliches in Voltaires »Philosophischem Wörterbuch« lesen, das er erstmals 1764, als Siebzigjähriger, veröffentlichte. Da heißt es im Artikel »Religion«: »Die Epikureer, die keine Religion hatten, empfahlen, sich vom öffentlichen Leben fernzuhalten, seinen Studien nachzugehen und in Eintracht zu leben. Diese Sekte war eine Gemeinschaft von Freunden, denn ihr erster Grundsatz war die Freundschaft. Atticus, Lucrez, Memmius und andere Männer diese Schlages konnten in allen Ehren zusammenleben, und so etwas gibt es in allen Ländern. Philosophiert, soviel ihr wollt; das kommt mir dann so vor, als wenn Musikliebhaber ein kunstvolles und gepflegtes Konzert spielen. Aber«, und nun kommt die charakteristische Wende, aber »hütet euch, so ein Konzert vor dem unwissenden und rohen Volk aufzuführen, es könnte sein, daß es euch die Instrumente um die Ohren schlägt. Kein noch so kleines Nest läßt sich ohne Religion regieren.« Und als wollte Voltaire den Sarkasmus dieser Zwei-Reiche-Lehre bewußt mit öffentlicher Ironie untersetzen - jedenfalls fügt er schnell noch hinzu: die christliche Religion sei natürlich » die einzig gute, die einzig notwendige, die einzig bewiesene und die zweite geoffenbarte Religion«. In seinem Artikel »Atheisten« klingt das dann freilich gar nicht mehr so spöttisch. Mit Ingrimm geradezu wird konstatiert: »Die christliche Religion hat die Menschheit mehr als siebzehn Millionen Menschenleben gekostet, wenn man nur eine Million auf ein Jahrhundert rechnet. Die einen sind durch die Henker der Justiz gestorben, die anderen durch die in Schlachtordnung aufgestellten gedungenen Henker und das alles zum Heil der Mitmenschen und zum größeren Ruhme Gottes.« Aber die Konzession macht auch Voltaire: »Es ist über jeden Zweifel erhaben, daß für eine gesittete Gemeinschaft selbst eine schlechte Religion sehr viel nützlicher ist als gar keine.«

Das sah ein Pierre Bayle ganz anders. Noch bevor er in den Jahren 1695-97 sein als »Bibel der Aufklärer« gefeiertes und auch von Zinzendorf eifrig und offensichtlich mit Gewinn studiertes Dictionnaire herausbrachte, das »Historische und kritische Wörterbuch«, hatte er in seinem nicht minder berühmten Buch »Verschiedene Gedanken über einen Kometen« von 1682 gerade diese These attackiert und mit Pathos und Emphase behauptet: lieber keine Religion als eine schlechte und also abergläubische. Denn der Aberglaube und seine Götzendiener würden jede Gesellschaft ruinieren. Lieber sollen alle Menschen zu Atheisten werden als einer zum Abergläubigen. Und überhaupt: auch die Rechtgläubigkeit sei keine Garantie für Ehrbarkeit und Sitte. »Vergleichen Sie einmal die Lebensarten verschiedener Nationen, welche sich zum Christentum bekennen«, fordert Bayle seinen Leser auf, »vergleichen Sie dieselben, sage ich, mit einander, Sie werden sehen, daß, was in einem Lande unehrbar ist, es in einem anderen ganz und gar nicht ist. Es müssen daher die Begriffe der Ehrbarkeit, welche unter den Christen anzutreffen sind, gar nicht von der Religion herkommen, zu der sie sich bekennen. Es gibt deren wohl einige, die allgemein sind; denn ich weiß keine christliche Nation, wo es eine Schande ist, wenn ein Frauenzimmer keusch lebt. Allein, wenn man aufrichtig verfahren will, so wird man gestehen müssen, daß dieser Begriff älter ist als das Evangelium und Moses. Es ist ein gewisser Eindruck, der so alt wie die Welt ist, und ich will Ihnen bald zeigen, daß die Heiden denselben nicht von ihrer Religion entlehnt haben. Man gestehe daher, daß es unter den Menschen Begriffe von der Ehre gibt, die schlechterdings ein Werk der Natur ... sind.«

Das Fazit ist ebenso eindeutig wie am Ende des 17. Jahrhunderts provozierend: Selbstverständlich würde auch eine Gesellschaft von Atheisten Gesetze des Wohlstandes und der Ehrbarkeit einführen. Mehr will Bayle zunächst auch gar nicht sagen. Aber durch das ganze Werk trägt sich unausgesprochen der Gedanke, daß es vielleicht sogar das Beste wäre, Gesetze überhaupt nur von Atheisten machen zu lassen, zumal die Grenze zwischen Aberglauben und Rechtgläubigkeit ohnehin nur schwer bestimmbar sei. Das ist nun ziemlich eindeutig, und das Entsetzen war denn auch groß. Doch eine explizite Gottesleugnung sucht man auch bei Bayle vergeblich. So waghalsig wollte er denn wohl doch nicht sein. Das blieb anderen vorbehalten, die es sich auch leisten konnten. Etwa Friedrich II., der in seinem Politischen Testament von 1752 klipp und klar erklärt: »Alle Religionen beruhen, denkt man einmal genauer über sie nach, auf einem mythischen, mehr oder weniger unsinnigen Grundgedanken. Es ist unmöglich, daß ein Mensch mit gesundem Verstand, wenn er dieses Problem einmal zu durchdenken beginnt, den Irrtum nicht erkennt: aber diese Vorurteile, diese Irrtümer, diese Wundergeschichten sind für die Menschen gemacht, und man muß verstehen, die Allgemeinheit in dem Maße zu respektieren, daß man sie in ihrem Kult, gleich welcher Religion, nicht kränkt.« 1752! Bekanntlich sprach Friedrich II. mehr und besser Französisch als Deutsch. Und überhaupt ist er für die deutschen Länder nicht eben repräsentativ. Im Unterschied zu Frankreich, Holland und England bleibt die Aufklärung im Deutschen sehr viel moderater.

Das ist kein Zufall. Das Bürgertum und also der gesellschaftliche Träger der Aufklärungsbewegung war bei weitem nicht so entwickelt. Als in Frankreich 1789 die Revolution losbrach, da hatten die deutschen Lande noch fast 100 Jahre vor sich, um erst einmal ein »deutsches Reich« zu werden. Bis dahin regierten Hunderte von kleinen, großen, mittelkleinen, -großen Feudalisten. Ökonomisch bewegte sich nicht viel. Zudem hatte sich der 30jährige Krieg äußerst lähmend auf die Gesamtentwicklung ausgewirkt. Als im »Westfälischen Frieden« 1648 die bestehende Parzellierung festgeschrieben wurde, da erlangte die niederländische Republik bereits ihre Unabhängigkeit. Und ein Jahr später wurde unter Cromwell in England die Republik ausgerufen. Unter diesen Bedingungen mußte die deutsche Aufklärung ihr eigenes Gesicht bekommen. Gesellschaftskritik war denn auch nicht ihr erstes Thema. Und auch in Sachen Religionskritik hielt sie sich zunächst maßvoll zurück. Korrektur, Modifizierung, partielle Eliminierung - das war der Maßstab ihrer Arbeit. Doch ganz und gar nicht Radikalität, die an die Wurzeln geht, die keinen Preis mehr kennt. Genau das war denn auch der Ort, an dem sich die zweite Linie der postkopernikanischen Wirklichkeitsbewältigung dann in besonderer Weise einschrieb. Vom Materialismus konnte man hier nur wenig hören. Der wurde noch von sehr viel Geist und Geistigkeit umhüllt.

Doch beide Linien entspringen letztlich einer gemeinsamen Problematik, die geistesgeschichtlich in dem kategorischen Veto des »sehr alten Kardinals« gründet: »Aber ich jedenfalls lasse es mir nicht gefallen. Ich nicht irgendein Wesen auf irgendeinem Gestirnchen, das für kurze Zeit irgendwo kreist.« Vielleicht ist das die eigentliche Schwäche des Brechtschen Galilei, daß er dieses Veto vereinzelt und zudem noch einem »sehr alten Kardinal« in den Text schreibt. Denn in diesem Veto protestiert eben nicht nur das ideologische Ancien regime. Letztlich protestierten alle dagegen. Niemand wollte zu »irgendeinem Wesen auf irgendeinem Gestirnchen« werden. Nur: dieser Protest fällt ganz unterschiedlich aus. Die Kirche bleibt bei ihrem alten Standpunkt und bestreitet tapfer. Die Aufklärung hingegen findet den Mut, und sie findet Mittel und Wege, den Verlust der Mitte zu kompensieren, das verlorengegangene Mittelpunktbewußtsein durch ein neues Selbstbewußtsein aufzufangen.

So wichtig es ist, die Aufklärung in Beziehung zu setzen zu der sich entwickelnden Bourgeoisie als der sie tragenden gesellschaftlichen Kraft - die motivanalytische Klärung der Frag nach den Quellen des bürgerlichen Emanzipationsprozesses bleibt konfrontiert mit der Komplexität dieses Ereignisses, das nicht monokausal abgeleitet werden kann, weil sich Geschichte immer polykausal konstituiert. Und zu den Konditionen der Aufklärungsgeschichte gehört nun eben auch und ganz wesentlich die geistesgeschichtliche Nötigung zur Emanzipation. Ohne die gleichsam »innere« Nötigung hätte die Geschichte ihren Verlauf zwar nicht eingestellt, ihn aber gewiß anders genommen.

Leider bin ich Philosoph zu wenig und Historiker nicht genug, um diese These am Detail erläutern zu können. Doch es ist ja ganz unbestritten und unbestreitbar, daß sich die Aufklärung nicht etwa nur in bestimmten, ökonomisch und gesellschaftlich prädestinierten Ländern Europas durchsetzte, sonder - auf Ganze gesehen - erstaunlich unabhängig von den jeweiligen und insgesamt ja sehr unterschiedlichen sozio-ökonomischen Bedingung als ein gesamteuropäische Phänomen in Erscheinung trat.

Selbst sprachlich kommt es hier zur Interdependenz. Werner Bahner hat in seinem Band »Aufklärung als europäisches Phänomen«(Leipzig 1985) sehr interessant die semantischen Signaturen des europäischen Wortes »Aufklärung« zusammengestellt. Der Befund ist bemerkenswert: was im Deutschen »Aufklärung« im Sinne von »erhellen« und »aufklaren« meint, das ist im Französischen »lumiere«, das Licht, die Helligkeit, italienisch »luce«, »illuminato«. Auch im Spanischen, im Portugiesischen, im Rumänischen geht es um »Beleuchtung« und »Erhellung«, um »liustrado«, »lumiado«, »luminare«. Selbst im Russischen spricht man von »proswetschenie«, vom »swet«, vom »Licht« - nicht anders als die Engländer »enlighten« sagten. Natürlich gab es hier Abhängigkeiten, aber das Phänomen der Aufklärung besteht nun gerade darin, daß es diese Abhängigkeiten überhaupt geben konnte angesichts der z.T. völlig unvergleichbaren sozio-ökonomischen Situationen. Wo gab es denn schon im Rußland des 18. Jahrhunderts oder gar im Rumänischen ein Bürgertum, das für die Aufklärung die Rolle einer gesellschaftlichen Kraft hätte übernehmen können? Katharina II. war jedenfalls ebensowenig eine bürgerlich wie Joseph II. oder Friedrich II. »Spätfeudalismus« trifft da schon genauer. Aber merkwürdigerweise eben ein aufgeklärter.

Die Aufklärung ist ein europäisches Phänomen, das sich geistesgeschichtlich einordnet in jenen Bildungshorizont, der die kopernikanische Wende als Herausforderung zu einem »neuen Denken« begreift. Natürlich ist dieses vielgestaltig und variantenreich, denn es ist ein Denken auf der Suche nach einer neuen Tragfähigkeit, nach jenem Standort, von dem aus - aller Gestirnchenexistenz zum Trotz - der Mensch wieder zum Mittelpunkt werden kann. Aber darin besteht Übereinstimmung: dieser neue Standort kann nicht mehr außerhalb des Menschen gefunden werden. Der Mensch muß nun auf sich selber bestehen. Er selbst wird zum Maß aller Dinge. Der Satz des Protagoras wird zum Prinzip. Selbst dort, wo der Bruch mit der Theologie nicht radikal vollzogen wird, rückt die Anthropologie auf - in den Rang einer Konstante. Und im 19. Jahrhundert zieht dann Feuerbach nur noch die letzte Konsequenz, wenn er erklärt: Theologie ist Anthropologie.

Aber eigentlich ist das schon nicht mehr seine eigene Formel. Das ist bereits Fazit einer Entwicklung, in der letztlich schon Leibniz steht, obwohl ihm nun wirklich alles darauf ankommt, die verlorengegangene Einheit der Weltanschauung zurückzugewinne. Dabei ist gewiß mehr herausgekommen als nur der Versuch einer Ehrenrettung Gottes. Leibniz will Gott die Ehre geben, er will sie ihm wiedergeben - doch das kann ihm nur gelingen in dem imponierenden Entwurf einer Weltall, Erde, Mensch und Gott umspannenden Metaphysik, mit der die Klage um den Verlust der Mitte beschwichtigt werden soll, indem nun eben beidem Rechnung getragen wird: der Vollkommenheit Gottes und dem geforderten Selbstbewußtsein des Menschen. Ein Schlüsselsatz in der Vorrede zur Theodizee von 1710 lautet denn auch: »Die Vollkommenheiten Gottes sind dieselben wie diejenigen unserer Seelen, nur daß er sie schrankenlos besitzt: er ist wie ein Ozean, von dem zu uns nur einzelne Tropfen gedrungen sind.« Nietzsche wird dann später an diesem Bild vom Ozean die Krankheit zum Tode Gottes diagnostizieren und auf dem Totenschein bestätigen: Jawohl, der alte Leibniz hatte Recht, da sind zunächst nur einzelne Tropfen abgeflossen - doch dann hat der Mensch diesen Ozean ausgetrunken.

Gerade diesem will Leibniz wehren, und seine These ist ebenso kühn wie komfortabel. Sie zielt auf einen grandiosen Kompromiß, der darin besteht, daß nach dem Verlust der Mitte nun einfach alles zur Mitte erklärt wird. Der Mensch, so Leibniz, ist auch auf seinem ins All geworfenen Planetchen Erde kein Nichts, denn das Universum, die Schöpfung Gottes, besteht durchweg aus Monaden, aus Atomen und also aus unteilbaren einfachen Existenzen, die in unterschiedlichster Weise verbunden, das Ganze der vielfältigen Natur ausmachen. Auch die Menschenseele ist eine solche Monade, die, im Zusammenspiel mit anderen Monaden, einen Menschen aus Seele und Leib entstehen läßt. Diese Monaden sind aber nicht alle gleicher Qualität. Hier gibt es Graduierungen, eine Stufenleiter, die vom Unorganischen zum Organischen führt und schließlich zu jener Monade, die sich ihrer selbst bewußt ist, die Fähigkeit zur Apperzeption besitzt, wie Leibniz gerne sagt, also nicht in bloßer Perzeption verharrt, im Unterbewußten, in bloßer Wahrnehmung, die noch nicht verarbeitet, nicht reflektiert und also noch nicht denkt, sonder bewußt und willentlich erfaßt und denkerisch gestaltet. Eine solche apperzipierende Monade: das ist der Mensch, des Menschen Seele. Doch die Leiter hat noch eine letzte Stufe, eine oberste Monade: das ist Gott selbst, der Schöpfer des Universums, in dem das Ganze gegenwärtig ist. Und das Besondere der Monaden besteht nun darin, daß sich auch in ihnen das Ganze des Universums präsentiert - nur eben mit jeder Stufe abwärts unvollkommener, undeutlicher, unbewußter - bis hin zur bloßen Bewußtlosigkeit des Unorganischen. Aber dieses gilt: zuletzt stellt jede Monade das ganze Universum vor. Das Universum spiegelt sich in jeder, der Makrokosmos reflektiert sich im Mikrokosmos, wenngleich unterschiedlich klar.

Wenn das wirklich gilt, dann braucht uns um den Menschen nicht bange zu sein. Er könnte getrost auch auf dem Mond leben und um die Erde kreisen - er bliebe immer alles in allem, ein Spiegelbild der Schöpfung, die kleine Monade, die der großen wesensähnlich.

Leibniz hat beeindruckt mit diesem großen System einer in sich geschlossenen Weltanschauung, die dem Menschen einen neuen Ort erschließt und dennoch Gott die Ehre gibt. Selbst der Atheismus der Griechen ist hier aufgehoben, das Anliegen des Materialismus soll Berücksichtigung finden, ohne in Pantheismus umzuschlagen. Gegen Spinoza ist Leibniz allergisch, wie er ja auch dem Pierre Bayle kaum einen Satz durchgehen läßt. Aber durchgesetzt hat er sich am Ende gegen beide nicht. Spinozas Pantheismus blieb doch attraktiver, und Bayles radikale Trennung von Vernunft und Offenbarung fand ein noch größeres Gefolge, jedenfalls nach Hegel. Als Schleiermacher in seinen 1799 erschienenen »Reden über die Religion« in die Debatte um die neue Mitte des Menschen eingreift, da ist es nicht Leibniz, sondern Spinoza, auf den er sich beruft und dem er nachrühmt: »Ihn durchdrang der hohe Weltgeist, das Unendliche war sein Anfang und Ende, das Universum seine einzige und ewige Liebe.« Dieses hätte er so über Leibniz wirklich nicht sagen können. Das Universum war nicht Leibniz' »einzige und ewige Liebe«, es war nicht einmal seine Leidenschaft. Die ging auf die Verteidigung des Menschen und auf die Gerechtsprechung Gottes. Das Universum stand da nur irgendwie dazwischen. Bei Schleiermacher aber gibt es nur noch Universum. Das Universum und der Mensch, das ist sein Thema.

Gott und Unsterblichkeit sind, wie er bekennt, dem zweifelnden Auge längst entschwunden. Das ist ernst gemeint, und der neue Ton ist nicht zu überhören, wenn man den Schluß der 2. Rede liest, in dem es - ein wenig fast verzagt, doch mit dem Mut zur neuen Dimension - heißt: »Gott ist nicht alles in der Religion, sondern Eins, und das Universum ist mehr.« Ein Schlüsselsatz der Reden, der den andrängenden Atheismus des neuen Weltgefühls nicht mehr verbergen kann und will und zugleich auch schon wieder auf neue Totalität insistiert: Das Universum ist mehr.

Doch dieser Satz allein trägt noch nicht. Im Gegenteil, er verunsichert erst recht, denn das war die große Befürchtung, daß das Universum alles ist und der Mensch ein Nichts. Leibniz versucht diese Befürchtung zu nehmen, indem er die Monade Mensch auf den Thron einer apperzipierenden Schöpfungsspiegelung hebt und ihr versichert, daß sie da nur wenig unter Gott zu stehen kommt. Schleiermacher geht noch weiter. Sein Mensch rückt geradezu in die Stelle Gottes ein. Es gibt ja nur noch Mensch und Universum, das unendliche. Und in ihm nun erhält der Mensch das einzigartige Privileg, zum Bewußtsein des ganzen Universums zu werden. »Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblick ihre Seele, denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben wie mein eigenes, sie ist in diesem Augenblick mein Leib.«

Das ist auch mehr, als Spinoza sagen konnte. Das ist die Anthropologisierung des Pantheismus - ein Pananthropismus. Nicht mehr bleibt das Universum der Leib Gottes, es wird zum Leib des Menschen. Und dieses zu erfühlen, ja zu schmecken geradezu, das ist die Stunde der Religion als »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«. »Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig zu sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion.« Es ist nicht zu überhören: hier spricht, hier dichtet bereits die frühe Romantik, und die Strenge der Aufklärung beginnt einer lindernden Verklärung zu weichen. Aber das Thema ist immer noch dasselbe.

In gewisser Weise bietet Schleiermacher einen Gegenentwurf zu Kant, mit dem es aber auch Gemeinsames gibt. Allem voran die Abwesenheit Gottes. Bei Kant spiegelt sich diese in der Insuffizienz der reinen Vernunft für die Gotteserkenntnis. Gott läßt sich nicht erkennen, nicht beweisen. Wo immer der Verstand sich um ein solches Unternehmen bemüht, da stößt er auf die Grenze des empirisch Verifizierbaren. Und so bleibt der Gottesbegriff nicht mehr als »ein regulatives Prinzip der Vernunft, alle Verbindung in der Welt so anzusehen, als ob sie aus einer allgenugsamen notwendigen Ursache entspränge«. Gott ist, wie es an andere Stelle in der »Kritik der reinen Vernunft« von 1781 heißt, ein »Ideal der reinen Vernunft, aber eben nicht als objektive Realität aussagbar. Die reine Vernunft braucht ein solches Ideal, um in das Chaos der Sinneseindrücke Ordnung und Gesetzmäßigkeit zu bringen. Aber es ist nun eben nicht - wie bei Leibniz - Gott selbst, der die Ordnung schafft, die Harmonie. Die existiert letztlich nur im Kopf des Menschen. Denn wie es um die Dinge nun wirklich und an sich steht, das ist ohnehin nicht herauszubekommen. Kant mußte sich viel anhören - vom Himmel aus, versteht sich - und sich Agnostizismus vorwerfen lassen, auch subjektiven Idealismus. Und irgendwie stimmt das ja auch alles. Aber: die Rolle, die der Mensch bei Kant spielen darf, die durfte er vor Kant kaum üben.

Auch Kant wird vom Verlust der Mitte in Bewegung gehalten. Nicht zufällig befaßte er sich schon 1755 in seiner zweiten größeren Arbeit mit einer »Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels«, in der er Newton kritisierte, weil dieser in der Fortschreibung des Kopernikus und Kepler dann doch ein wenig zu früh wieder die Arbeitshypothese »Gott« ins Spiel gebracht hatte. Kant wollte ohne sie auskommen und beweisen, »daß die Welt eine mechanische Entwicklung aus den allgemeinen Naturgesetzen zum Ursprung ihrer Verfassung« habe. Die kopernikanische Wende ist ihm durchaus ein existentielles Problem. Die »Kritik der praktischen Vernunft« von 1788 schließt mit dem berühmten Bekenntnis: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheit verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußeren Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins Unabsehlich-Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer.« Der »Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es war, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall ) wieder zurückgeben muß, nach dem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen.«

Das hätte auch der »sehr alte Kardinal« so sagen können, wenn er sich auf Galilei eingelassen hätte. Er wollte nicht, denn er konnte nicht zu diesem Unterpunkt im Weltall werden. Aber Kant auch nicht, und Schleiermacher auch nicht. Der läßt den Menschen zur Seele des Universums werden und bringt ihn damit zu höchster Bedeutung. Das will Kant auch. Doch sein Mensch liegt nicht am Busen der unendlichen Welt, er steht ihr souverän gegenüber: »Freiheit« und »Persönlichkeit«, das sind Kants große Worte, die er für den Menschen reklamiert. »Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der Natur«, so definiert er die Persönlichkeit in der »Kritik der Praktischen Vernunft«. »Die Achtung erweckende Idee der Persönlichkeit, welche uns die Erhabenheit unserer Natur ... vor Augen stellt, indem sie uns zugleich den Mangel an Angemessenheit unseres Verhaltens in Ansehung derselben bemerken läßt, und dadurch den Eigendünkel niederschlägt, ist selbst der gemeinsten Menschenvernunft natürlich und leicht bemerklich.« Das ist in der Tat »subjektiver Idealismus«, aber was für einer! Das Wort bekommt einen völlig neuen Klang, wenn man hört, daß schließlich auch Kants Erkenntnislehre ganz im Dienst der Freiheit steht: Der Mensch selbst ist es, dessen reine Vernunft das Ideal eines Gottesbegriffes birgt, dessen praktische Vernunft das Gottespostulat einbringt, dessen Intelligibilität der Welt Gesetzmäßigkeit und Ordnung verleiht. Mag sein, daß diese in Wirklichkeit ganz anders aussehen, aber der Mensch ist so frei und intelligibel, daß er Ordnung schaffen kann. Das konnte vorher nur Gott selbst.

Schleiermacher hatte nichts im Prinzip gegen Kant. Nur die Vernunft konnte er so hoch unmöglich schätzen. Auch war Freiheit sein Deutewort nicht. Die Romantiker sind in manchem ehrlicher, weil realistischer. Und das Schleiermachersche »Gefühl schlechthin Abhängigkeit« ist schon ein Gipfel an Realitätssinn und Ehrlichkeit zugleich, auch wenn es religiöse Signaturen trägt.

Herder ging mit Kant weit kritischer ins Gericht. Und man hat gesagt, daß er sich dabei denn doch wohl auch ein wenig lächerlich gemacht hätte, weil die Kritik an Kant in manchem zu kleinlich vorgetragen worden wäre. Doch dieses Urteil über Herder sollte niemand ungeprüft übernehmen. Herder hat seinen Lehrer Kant in der Tat frontal angegriffen, doch nicht mit dem Ziel, den Kantschen Menschen wieder in das Paradies der Unmündigkeit zu relegieren. Im Gegenteil. Kants Philosophie erscheint ihm eher zu problematisch und zu theoretisch, um das hergeben zu können, was geboten werden muß, um den Menschen an seinem neuen Ort zu ermutigen. Die »reine Vernunft« reichte Herder da nicht aus. Er bestritt sogar, daß es überhaupt eine »reine Vernunft« geben könne. Denn der Gedanke ist an das Wort gebunden, das Wort an Sprach, die Sprache an Geschichte, an Entwicklung und Kultur. So ist das Denken selbst auch ein Prozeß, der Vergangenheit hat - und Zukunft. Bei Kant denkt letztlich die Leibniz'sche Monade, nur daß es außer ihr kein anderes Wesen gibt. Herder aber denkt geschichtlich, und das ist neu in der Aufklärung: Geschichte und Geschichtlichkeit.

Nicht zufällig kommt dieser Paradigmenwechsel. Er signalisiert ein neues Unbehagen, für das nun die Aufklärung selber verantwortlich wird. Sie wollte den Verlust der Mitte, der Geborgenheit im Schoß der Erde, kompensieren, indem sie den Menschen selbst zur Mitte machte. Dies war er nun geworden - doch siehe da: er blieb hier ganz allein auf sich gestellt. Ein imponierendes intelligibles Wesen zwar, doch seine Autonomie und Autarkie kostete den Preis der Vereinzelung. Atomisierung ist die Kehrseite seiner Unabhängigkeit. Diese freilich ist nicht ohne Individuation zu haben. Und diese Vereinzelung hat natürlich auch gesellschaftlichen Hintergrund. Das Bürgertum tritt ja nicht gleich in Massen auf. Da brechen zunächst einzelne aus. Aufklärer bleiben lange Einzelgänger. Mit der Vergangenheit verbindet sie der Bruch und Abbruch. Erst als sich Klasse bildet und Aufklärung zur Bildung wird, wächst jenes Selbstbewußtsein, das auch im Alten nun Geschichte sieht, in der man selber steht. Und wo man Klasse wird, da läßt sich auch Vereinzelung aufheben. Dafür ist Herder der richtige Mann. Er wechselt zwar nicht das Thema der Aufklärung, aber er verlegt den Versuch seiner Bewältigung auf eine andere Ebene. Kant war es zwar gelungen, den durch die kopernikanische Wende enthausten Menschen einen neuen Ort zuzuweisen: die transzendentale Vernunft, von der auch das Ganze überblickt werden kann, die selbst zur kreativen Mitte des Ganzen wird. Doch das ist ein einsamer Ort, vielleicht geschaffen für Königsberger Philosophen, doch ohne Wärme für den ganzen Menschen, keine Heimstatt für den Leib und für die Seele. Die braucht Geborgenheit, die nicht nur in sich selber gründet. Und Herder gibt ihr diese und nennt sie dann Geschichte. Das sieht fast wie ein Rückschritt aus. Denn nun sind wir wieder auf der Erde. Und da will Herder auch wirklich sein und bleiben. Nur daß diese Erde nun ganz anders aussieht, nicht mehr als der kleine Punkt im All, sondern als der distinguierte Ort der Geschichte der Menschheit gesehen wird.

Diese Menschheitsgeschichte ist es, die dem einzelnen jetzt Halt und Sinn bietet, die ihn beheimatet und ihn - so müßte man auch sagen - vergessen macht, daß die Erde nur ein Punkt ist. Der Paradigmenwandel ist deutlich: nicht der »Mensch im Kosmos« soll das Thema der Philosophie bleiben, sondern der »Mensch in seiner Geschichte« muß ins Zentrum rücken, wenn der Verlust der ursprünglichen Ortshaftigkeit aufgehoben werden soll.

Bereits in einem sehr frühen Aufsatz aus dem Jahre 1763 schreibt Herder: »Wenn man den Gesichtspunkt der Weltweisheit in der Art ändert, wie aus dem ptolemäischen das kopernikanische System wird, welche neue fruchtbare Entwicklungen müssen sich hier nicht zeigen, wenn unsere ganze Philosophie Anthropologie wird.« Für ihn ist die Anthropologie nicht einfach die Welt von Menschen, sondern eine Philosophie der Mitmenschlichkeit in des Wortes präziser Bedeutung. Der Mensch ist immer Mit-Mensch - oder genauso: er ist auf dem Wege, Mit-Mensch zu werden. Erst in diesem Mit-Mensch-Sein definiert sich der Begriff des Menschen. Hier bekommt Geschichte ihren Sinn, ihr Telos, ihre Einzigartigkeit.

Das ist nun wirklich ein mutiger Gedanke. Mutiger vielleicht als Kants transzendentale Autonomie, die das intelligible Ich über alles erhebt. Herders Mensch wird gerade nicht über alles erhoben. Im Gegenteil. Existenz wird gebunden an Koexistenz. In dieser Beziehung erfüllt sich ihr Sinn: auch wenn sich die Erde um die Sonne dreht ...

*

Zunächst sei noch einmal an unsere Hauptthese erinnert, die da lautete:»Die Aufklärung ist ein europäische Phänomen, das sich geistesgeschichtlich einordnet in jenen Bildungshorizont, der die kopernikanische Wende als Herausforderung zu einem ›neuen Denken‹ begreift.«

Die Herausforderung ist plausibel, weil total. Es geht um nicht weniger als um die Kompensation einer Weltanschauung, die mit Kopernikus zerbricht und dem Menschen die angestammte Mitte entzieht. Damit aber wird alles Denken aus seinen vertrauten Bahnen geworfen und gezwungen, neu die Mitte zu bestimmen. In diesem Versuch ist sich Aufklärung einig, auch wenn die Programme kontrastieren. Leibniz' Monadologie, die den Verlust der Mitte auffängt, indem sie faktisch alles nun zur Mitte macht. Schleiermachers Pananthropismus, in dem Spinozas Pantheismus anthropologisiert wird und der Mensch nun zur Seele, zum Bewußtsein des Universums aufsteigt. Kants Welt des Transzendentalen, die die Freiheit und Persönlichkeit, die Unabhängigkeit des Menschen von dem Mechanismus der Natur gewährt. Herders Einbindung des atomisierten Menschen in die sinnstiftende Ganzheit der Geschichte, die zur Menschheitsgeschichte wird.

Man denke nicht, ein Hegel hätte das nun alles links hinter sich liegenlassen und würde sich mit Dialektik ganz abstrakt befassen. Auch Hegel arbeitet an der Sinngebung für das Subjekt, das er mit sich selbst und mit der Welt versöhnen will. Nur wird hier nun alles noch grandioser, noch totaler als bei Leibniz, noch umfassender als bei Schleiermacher, Kant und Herder. Vor allem: noch radikaler in der Gottesfrage.

Man kann Hegels Philosophie letztlich erst dann ganz verstehen, wenn man sich ihr im Wissen darum nähert, daß diese Philosophie - aufs Ganze gesehen - koinzidiert mit einer Apologetik des Atheismus, die etwas radikal anderes sein will als bloße Gottesleugnung, als Bestreitung oder Ignoranz oder Desinteresse. Hegel ist kein materialistischer Atheist. Seine Gottlosigkeit trägt ideale Züge, und darin gründet ihr Schmerz, in dem Menschheitsgeschichte aufgehoben ist. Hegel bringt diesen Schmerz auf den Begriff, der als Theorem Geschichte umfassen will: die Geschichte der Menschheit.

Denn es ist das eine zu sagen, es kein Gott. An diesem Satz stirbt nicht nur Gott allein. Er vernichtet und verneint zugleich den religiösen Menschen aller Zeiten. Er erklärt ihn zum Irrtum, behauptet Verfehlung im Wesentlichen. Diese Radikalität ist Hegels Sache nicht, wenngleich auch er zu sagen weiß: »Gott selbst ist tot«. Aber Hegel redet über Gottes Sterben. Sein Tod wird ihm zum Thema. Kant, Schleiermacher, Herder - sie haben sich gehütet, hier laut zu werden. Sie haben es zwar gewußt, gespürt vielleicht auch nur - aber gerade bei ihnen spürt man dann doch die große Zurückhaltung, hier Eindeutiges zu sagen. Sie lenken eher ein, als daß sie Gott ganz offen sterben ließen. Leibniz war der letzte unter den Bedeutenden, der Gottes philosophische Existenz noch einmal zu erhärten wußte. Und er wußte, warum das not tat. Hegel verteidigt nicht mehr. Er schreibt ein Requiem, das noch einmal zur Apotheose gerät; aber gerade in ihr wird das Ende gesetzt: der Geist, der absolute, kommt zu sich selbst im Geist des Menschen. Dort denkt er sich, wird Subjekt-Objekt-gleich - und hört an sich doch auf zu sein.

Hegel ist kein objektiver Idealist. Der wird von ihm gerade zu Grabe getragen. Man muß Hegel von hinten nach vorn lesen. Wer beim absoluten Geist einsetzt, stellt Hegel auf den Kopf. Denn seine Philosophie ist eine Retrospektive, die nicht hinführt, sondern ausgeht von dem »harten Wort«, »daß Gott gestorben ist«.

Hegel ist Atheist, und er reflektiert diesen seinen Atheismus, der ja eben nicht nur seiner ist. Er setzt bei ihm ein, um dann doch sogleich den großen Sprung zu machen - an den Anfang, zum absoluten Geiste selbst, der nun vorgeführt wird im Prozeß seiner Entwicklung im Widerspruch, der erst dort aufgehoben ist, wo der Geist endlich wieder zu sich selbst findet und doch nicht mehr der absolute ist. Und indem Hegel so die Notwendigkeit des Todes Gottes demonstriert, verteidigt er zugleich den Lebenssinn des religiösen Menschen aller Zeiten, bewahrt er diesen vor der Leere bloßen Irrtums, setzt ihn ins Recht, das jetzt jedoch zerbrochen ist. Doch dieser Bruch ist stimmig, kein Abbruch, sondern Umbruch. Die neue Zeit, die ohne Gott nun leben muß.

Zitat aus der »Phänomenologie des Geistes«: »Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz - der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht, das Gefühl: Gott selbst ist tot ... - rein als Moment, aber auch nicht mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem ... eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen ...« »Es ist das Bewußtsein des Verlustes aller Wesenheit in dieser Gewißheit seiner und des Verlustes eben dieses Wissens von sich - der Substanz wie des Selbst, es ist der Schmerz, der sich als das harte Wort ausspricht, daß Gott gestorben ist.«

Das ist Hegels Ziel: Er will dem Atheismus seiner Zeit eine innere Logik geben, er will ihn als Fremdkörper, der sich nicht mehr eliminieren läßt, legitimieren und also einbinden in die Geschichte der Menschheit samt ihrer Philosophie und Religion. Und das ist ihm auf seine Weise tatsächlich auch gelungen.

Insofern findet bei ihm denn auch eine Entwicklung ihren Abschluß, die für die Aufklärung charakteristisch ist: die sukzessive Eroberung einer neuen Mitte weltanschaulichen Bewußtseins unter zunehmender Ausklammerung der Arbeitshypothese »Gott«. Hegel liefert die Legitimationstheorie für diese Ausklammerung.

Denn es ist das eine zu sagen: es ist kein Gott. Ein anderes aber ist es zu hören, daß Gott gestorben sei. In diesem Tode bleibt selbst noch die Vergangenheit bewahrt, und Versöhnung stellt sich ein.

Der A-Theismus wird getragen - von einem Menschen, der nun selber Gott heißt.

»Daß der Mensch von Gott weiß, ist nach der wesentlichen Gemeinschaft ein gemeinschaftliches Wissen, insofern Gott im Menschen von sich selber weiß.« »In dieser ganzen Geschichte ist dem Menschen zum Bewußtsein gekommen, daß der Mensch unmittelbarer, präsenter Gott ist, und zwar so, daß in dieser Geschichte, wie sie der Geist auffaßt, selbst die Darstellung des Prozesses ist dessen, was der Mensch, der Geist ist.«

Das ist Hegels Antwort auf die Frage »cur deus homo?« [warum Gott Mensch geworden sei]. Und irgendwie hört man dabei den alten Athanasius, der ja auch in diesem Sinne antwortete: Gott wurde Mensch, damit der Mensch zum Gotte wird. Bei Athanasius bleibt Gott noch Gott: bei Hegel weicht die Konkurrenz der Kongruenz. Was bleibt, das ist der Mensch: ein Gott.

Karl Barth hat Hegel einen Philosophen des »Selbstvertrauens« genannt und seine Philosophie als die eigentliche »Erfüllung des Anliegens der Aufklärung« charakterisiert. Und ganz gewiß ließe sich dieses Selbstvertrauen auch gesellschaftlich untersetzen mit jenem bürgerlichen Selbstbewußtsein, das in der 48er Revolution dann noch einmal gebrochen wird - mit der Folge, daß auch das Hegelsche System zerbricht ...

*

... Ich habe meine Interpretation der Aufklärung bewußt in Konkurrenz zu Horkheimer und Adorno gegeben. Der Verlust der Mitte ist nicht ihr Thema, zumal sie unter Aufklärung einen Prozeß verstehen, der bereits im Mythos der Antike sich zur Geltung bringt. Aufklärung - ein Oberbegriff für Menschheitsgeschichte, in deren Mittelpunkt der Kampf zwischen Mensch und Natur steht. Aufklärung - der Versuch des Menschen, sich diese Natur zu unterwerfen, ihr das Unheimliche zu nehmen, sie zu beherrschen, intellektuell ebenso wie technologisch. Und diese Aufklärung gelingt sogar, obwohl die Natur sich rächt und neue Widerstände leistet und immer wieder größere. Doch diese werden überwunden, letztendlich - doch der Preis ist hoch. Denn überwunden werden sie durch das gigantische Anwachsen der Vergesellschaftung der Menschen. Je höher der Grad dieser Vergesellschaftung, desto totaler die Naturbeherrschung. Und genau hier nun schlägt die Aufklärung in ihr Gegenteil um, in die totale Vergesellschaftung, die nun noch unheimlicher wird. Die Befreiung von der Naturabhängigkeit wird erkauft um den Preis totaler Abhängigkeit von der Gesellschaft, die zu einem gigantischen Räderwerk wird, aus dem es kein Entrinnen gibt. Die Gesellschaft wird zur neuen Naturgewalt - noch unheimlicher, noch gnadenloser. Der Faschismus ist das Wesen der »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno), die Wendestelle, an der sich der Progreß ins Gegenteil verkehrt, Zivilisation in Barbarei umschlägt.

Das Faszinierende an Horkheimer/Adorno ist der Gedanke des Zusammenhanges, der übergreifend Vergangenheit und Zukunft bindet, die Verrechnung der Einheit, von Kapital und Technik, die sich verselbständigen, zur Maschinerie werden und alles unter sich begraben. Die Physik erschlägt die Metaphysik - und damit Lebenssinn. Zurück bleibt »Materie...ohne Illusion«, die reine Macht, das pure Wissen. Und alles ohne Perspektive, letztlich.

Man darf diese Horkheimer-Adornosche Dialektik der Aufklärung nicht darum kritisieren wollen, weil diese Perspektive fehlt. Vielleicht fehlt sie ja auch wirklich. Geschichte hat nicht a priori Teleologie. Und gerade in unseren Tagen werden wir uns dessen schmerzlich bewußt, auch wenn der Schmerz ganz unterschiedlich groß ist. Jedenfalls hat die Einheit von Kapital und Technik alle Illusionen eingeholt, die Utopie vernichtet - vielleicht für mehr als hundert Jahre, wenn es hundert denn noch geben sollte, was höchst fraglich ist. Aber das darf nicht die Frage sein!

Die Frage ist, ob diese Dialektik der Geschichte stimmt. Hier habe ich Zweifel. Und ich bezweifle den Satz gleich aus der ersten Studie zum »Begriff der Aufklärung«, der da heißt: »Auf dem Wege zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht.« Natürlich fällt einem da gleich Bacon ein: »Wissen ist Macht«. Aber eben nicht Macht, die nicht mehr nach dem Sinn fragt. Das wäre nicht Bacon, das wäre nicht das 17., das 18. Jahrhundert. Denn in ihnen geht es ganz vornehmlich um den Sinn, um Eingeborgenheit. Sinngebung - darin besteht die Dynamik der Aufklärung. Der Verlust der Mitte muß eingeholt werden - um jeden Preis. Es darf nicht sein, daß der Mensch zu einem Körnchen Staub auf einem Punkt im All wird. Er selbst muß wieder alles werden. Das ist der Leitsatz der Aufklärung, der sich bis in die Theologie hineinschreibt. Die Aufklärung wird aus der Not geboren wie einst der Humanismus aus den Niederungen des Alexanderreiches. Dazu war sie aufgebrochen, den Menschen zu vergewissern, daß er selbst dann noch Mittelpunkt des Ganzen ist, wenn sich die Sonne nicht mehr um die Erde dreht, daß er den Mittelpunkt in sich selbst trägt, verinnerlicht in Ratio und Vernunft. Die Welt des Denkens ist der eigentliche Kosmos, und wo gedacht wird, da ist der Mittelpunkt des Alls.

Diese Aufklärung hatte ein nobles Ziel; sie wollte den Abgrund überbrücken, der sich nach Kopernikus auftat, in den die Erde zu stürzen drohte. Eigentlich wollte sie den Status quo befestigen, zurückholen das alte Weltbild, jedenfalls insofern, als der Mensch nicht aus der Mitte fallen sollte.

Und da nun setzt die Dialektik ein, die einem anderen Gesetz folgt als bei Horkheimer und Adorno. Es ist das Gesetz menschlicher Autonomie, die sich überzeugt weiß, unabhängig zu sein, und unabhängig gar nicht ist. Denn die Erde bleibt ein Punkt im All, die Natur ist stärker als der Mensch, die Welt des Denkens beschränkt sich auf die Welt des Menschen - und zwar des einzelnen, der die kopernikanische Wende nun gerade nicht nachvollzogen hat, sondern sie in der Aufklärung aufzuheben versucht. Die Relativierung der Erde hat im Denken des Menschen nicht stattgefunden. Er hat nicht gelernt, sich ins Ganze zu fügen, sich selber zu relativieren. Er will selber alles sein, die Welt des Menschen soll das Ganze bleiben. Und an eben diesem Widerspruch droht sie ganz zu scheitern. Es ist der Widerspruch, um den Heliozentrismus zwar theoretisch zu wissen, in der Praxis des Denkens und Handelns aber mit einem restituierten Geozentrismus zu leben, der sich nun - am Ende des 20. Jahrhunderts - als eine lebensgefährliche Fiktion erweist. Nachdem auch die Physiko-Theologie einzureden wußte, daß alles auf der Erde ausschließlich zum Nutzen des Menschen geschaffen wäre und also in seiner Verfügungsgewalt läge, konnte das Bewußtsein ökologischer Interdependenz erst aufkommen, als die Praxis die Ideologie handgreiflich zu widerlegen begann. Und sogar heute, kurz vor dem ökologischen Kollaps, ist diese Ideologie noch weithin ungebrochen. Und ungebrochen ist wohl auch der Optimismus, daß die Gattung Mensch unsterblich sei, daß Zukunft beliebig einfließe.

Die Aufklärung hat uns weltanschaulich die Illusion vermittelt, der erzwungenen Abdikation des Ptolemäischen Weltbildes zum Trotz in Kontinuität bleiben zu können. Sie konnte Kopernikus akzeptieren, indem sie Ptolemäus verinnerlichte - auf subtilste Weise. Das kann man an Kant studieren, an Schleiermacher, an Hegel - und besonders auch an Leibniz, dessen »bestmögliche aller Welten« heute unter dringendem Verdacht steht, eben doch nur die schlechtestmögliche aller Welten zu sein - genauer: geworden zu sein - noch genauer: zu einer solchen gemacht worden zu sein.

Darin besteht Übereinstimmung mit Horkheimer und Adorno: es gibt eine Dialektik der Aufklärung; es gibt den Regreß - aber er verdankt sich dem Übermut, den Verlust der ptolemäischen Mittelpunktsexistenz kompensieren zu wollen. Das Dramatische dabei ist, daß dieser Versuch durchaus gelang. Und wenn heute die Rede vom »neuen Denken« Sinn machen soll, dann wird sie das nur können unter Berücksichtigung jener Entwicklung, die uns als Aufklärung in die sogenannte Neuzeit getragen hat, in der wir eine Zukunft aber nur haben werden, wenn wir mit dem Kompensationsmechanismus der Aufklärung brechen und zurückfinden zu der Frage, welche anderen Konsequenzen zu ziehen sind aus der Tatsache, daß unsere Erde ein Punkt im All ist und der Mensch kein Mittelpunkt ...

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