Bonhoeffer

Zurück Home Nach oben Weiter

Der Friedensgedanke in der Theologie Dietrich Bonhoeffers

Kirche als Ereignis. Anmerkungen zur Ekklesiologie Dietrich Bonhoeffers

Der Friedensgedanke in der Theologie Dietrich Bonhoeffers

[in: Bonhoeffer-Studien. Beiträge zur Theologie und Wirkungsgeschichte Dietrich Bonhoeffers, im Auftrag des Bonhoeffer-Komitees beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR herausgegeben von Albrecht Schönherr und Wolf Krötke, Berlin 1985, S. 86-97]

Kaum ein Werk eines anderen Theologen ist so eng mit seiner Wirkungsgeschichte verbunden wie das theologische Erbe Dietrich Bonhoeffers. Originäre Bonhoeffer-Interpretation ist deshalb immer zugleich auch engagierte Bonhoeffer-Rezeption. Ohne diese Rezeption verläuft sich die Interpretation in die Relevanzlosigkeit theologischer Verbalität.

Bonhoeffers Denken und Handeln ist von dem Willen zur Konkretion in einer Weise bestimmt, die die Kategorie des Konkreten geradezu zu einem Kontinuum seines gesamten Schaffens werden läßt. Dieses spiegelt sich sowohl in Bonhoeffers verschiedenen Entwicklungsphasen als auch in unterschiedlichen Sachzusammenhängen wider. So kann Bonhoeffer z. B. das Apostolikum als »dem evangelischen Bekenntnis nicht angemessen«[1] kritisieren, weil für ihn das Bekenntnis der Kirche stets ein Bekenntnis »in concretissimo«[2] ist. Nach seinem Verständnis hört die Theologie auf, »Metaphysik zu sein, wenn sie der Kirche in konkretem Gehorsam dient«[3]. Und hinter seiner Frage nach einer nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe steht letztlich nichts anderes als die Frage nach der Konkretion der Verkündigung. Von hierher versteht sich wohl auch seine Kritik an Karl Barth, diesbezüglich »keine konkrete Wegweisung gegeben«[4] zu haben. Und schließlich ist es das Problem der Ethik, das Bonhoeffer immer wieder im Blick auf die konkrete Verantwortung, auf die konkrete Weisung reflektiert. »Wo liegt das Prinzip der Konkretion ... beim Gebot?«[5] Eine für Bonhoeffer charakteristische Frage. Und ebenso charakteristisch ist die Antwort, die auf die »Kenntnis der konkreten Wirklichkeit«[6] verweist.

Bonhoeffers Insistieren auf Konkretionen entspringt einem Verantwortungsbewußtsein, das sich nicht mit zeitlosen Wahrheiten zufriedengeben kann. »Denn was ›immer‹ wahr ist, ist gerade ›heute‹ nicht wahr.«[7] Gerade auch für die Friedensfrage ist diese dialektische Erkenntnis von eminenter Bedeutung. Und für das Verständnis des Friedensgedankens in der Theologie Bonhoeffers ist es wesentlich zu sehen, daß Bonhoeffer hier Prozesse und Entwicklungen durchläuft, die von dieser Korrespondenz von Verantwortung und Konkretion bestimmt sind.

I. In der Sackgasse des Seelenfriedens

Bis zum Jahre 1932 begegnen wir einer solchen friedensthematischen Korrespondenz bei Bonhoeffer allerdings kaum. Daß das Thema Frieden in dieser Zeit von ihm nicht als eine ernsthaft zu verantwortende und gestaltungsmögliche Aufgabe artikuliert wird, hängt engstens mit einem Geschichtsverständnis zusammen, in dem für den Frieden kein Raum zur Entfaltung bleibt.

»Unter dem Aspekt« des »Kampfes zwischen Evangelium und Teufel ist die ganze Weltgeschichte zu betrachten und in dieser nun besonders deren letzte Krise, die in der Neuverkündigung des Evangeliums, d. h. dem Werke Luthers, in Erscheinung getreten ist.«[8] So der 19 jährige Bonhoeffer in einer Seminararbeit über »Luthers Stimmung gegenüber seinem Werk in seinen letzten Lebensjahren ...«. Und daß Bonhoeffer in einer solchen Geschichtsmetaphysik zunächst weiterdenkt, belegt u.a. seine Arbeit »Über die christliche Gottesvorstellung« aus dem Jahre 1951, in der er programmatisch ausführt: »Tatsache ist, daß das Christentum eine neue Geschichtsinterpretation mit sich bringt.« »Geschichte muß letzten Endes ontologisch interpretiert werden. Die wahre Haltung des Menschen gegenüber der Geschichte besteht nicht in einer Interpretation, sondern in der Verwerfung oder Anerkennung, das heißt in der Entscheidung. Geschichte ist nichts weiter als ein Ort der Entscheidung ... für oder gegen Gott.«[9]

Diesem subjektivistischen Geschichtsverständnis entspricht bei Bonhoeffer zunächst ein Friedensbegriff, der seinem Inhalt nach ausschließlich auf die Versöhnung des Menschen mit Gott ausgerichtet ist. In der Welt sei der Mensch ein »Fremdling« und trüge »ein Kainszeichen auf der Stirn, das Zeichen des Menschseins, d. h. das Zeichen der Friedlosigkeit«[10]. Der Menschheit sei »das Schicksal der Friedlosigkeit«[11] beschieden, und nur der »Friede mit Gott«[12] würde diese schicksalhafte Bestimmung durchbrechen können, derjenige Friede, »den nur Gott über unsere Herzen bringen«[13] könne, der ausstrahle in »friedlose Seelen«[14]. Christen seien »Pessimisten in bezug auf die Welt«[15], sie könnten nicht an die Möglichkeit eines Friedens auch in der Geschichte glauben. Es gebe, so Bonhoeffer sogar noch 1932, »keine menschlichen Möglichkeiten, den Frieden aufzurichten, zu organisieren. Ja, solcher menschliche Versuch auf politischem Wege kann gerade wieder Herrschaft des selbstherrlichen Menschen, Sünde sein. Es gibt keinen gesicherten Frieden. Der Christ kann nur den Frieden wagen aus dem Glauben.« »Christus ging es nicht darum, um der Sicherheit und Ruhe willen die Zustände auf dieser Welt abzuändern. Noch viel weniger sollen wir meinen, durch politische Verträge die äußere Sünde, die Schrecken des Krieges abschaffen zu können. Solange die Welt Gott los ist, werden Kriege sein.«[16]

II. In der Konkretion ökumenischer Verantwortung

Mit diesem Verdikt über den Frieden teilt Bonhoeffer eine Weltflüchtigkeit, die auch heute noch und von nicht wenigen Christen als ›wahrhaft evangelisch‹ verteidigt wird. Bonhoeffer erkennt im Verlauf seiner Entwicklung diese religiöse Weltabstinenz und Wirklichkeitsignoranz als Verantwortungslosigkeit und Schuld. Sein bedeutender Vortrag auf der Jugendfriedenskonferenz in Cernohorske Kupele im Juli 1932 kann geradezu als ein solches Schuldbekenntnis verstanden werden, wenn er - schließlich auch gegen sich selbst - nun hervorhebt: »Was hat der Staat, was hat die Wirtschaft, was hat unser soziales Leben mit dem Christentum zu tun? Es ist unleugbar, daß wir hier alle noch unser Nichtwissen bekennen müssen; aber es ist ebenso unleugbar, daß wir dies unser Nichtwissen als unsere Schuld erkennen sollen. Wir sollten hier wirklich mehr wissen. Wir haben versäumt, hier klar und entschieden zu denken und Stellung zu nehmen.«[17] Zwar gibt Bonhoeffer noch keine konkreten Antworten auf die konkret gestellten Fragen. Gedanken über die Notwendigkeit einer sozialistischen Wirtschaftsordnung oder die Infragestellung der angeblichen Unantastbarkeit des angeblich gottgewollten Privateigentums[18] erscheinen nur marginal. Aber dafür konkretisiert Bonhoeffer die Problematik des Gebotes in einer auch heute gültigen Weise.

Einer seiner Kernsätze lautet: »Was für die Verkündigung des Evangeliums das Sakrament ist, das ist für die Verkündigung des Gebotes die Kenntnis der konkreten Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist das Sakrament des Gebotes.«[19] »Der Verkündigende muß also darauf bedacht sein, die jeweilige Sachlage so mit in die Gestaltung des Gebotes einzubeziehen, daß das Gebot in die wirkliche Situation selbst hineintrifft.«[20] Die Kirche kann also als Gebot Gottes »keine Prinzipien verkündigen, die immer wahr sind, sondern nur Gebote, die heute wahr sind«[21]. Damit wird einerseits die »Sachzugewandtheit der gebietenden Kirche« zur »Vorbedingung für ein wirkliches Gebot und macht andererseits jedes ihrer Gebote immer wieder unsicher, weil abhängig von der vollen Kenntnis der Wirklichkeit«[22]. So fordert Bonhoeffer von der Kirche entweder ein »qualifiziertes Schweigen des Nichtwissens« oder das Wagnis, im »Glauben an das Wort von der Sündenvergebung« das konkrete Gebot zu sagen - »aus der klaren Erkenntnis, daß es sein kann, daß sie damit Gottes Namen lästert, daß sie irrt und sündigt«[23]. Also: kein Schweigen aus Opportunismus, etwa aus Angst vor der Verdächtigung, ›einseitig‹, ›parteilich‹, ›angepaßt‹ zu sein; kein Reden in Unkenntnis, ohne wirkliche Einsicht in die wirklichen Sachzusammenhänge; Sachzugewandtheit als conditio sine qua non; keine Verkündigung allgemeiner Prinzipien: Vertrauen wagen, Schwerter zu Pflugscharen, sondern konkrete und gerade nicht ›ausgewogene‹ Weisung in konkreter Situation, hier und heute! Welche Synode unserer evangelischen Kirchen könnte wohl von sich sagen, im Sinne solcher Bonhoeffer-Rezeption geschwiegen und geredet zu haben - gerade auch in der Friedensfrage?!

Um eben diese Friedensfrage geht es Bonhoeffer in Cernohorske Kupele so zentral, daß er selber als Gebot Gottes formuliert: »Die Ordnung des internationalen Friedens ist heute Gottes Gebot für uns. Damit ist also eine ganz konkrete Erkenntnis des Willens Gottes für unsere Zeit ausgesprochen.«[24] Aus einer im Rahmen des Amerika-Aufenthalts in New York gehaltenen Ansprache vom Herbst 1930 geht hervor, daß Bonhoeffer zu jener Zeit noch nicht mit der Gefahr eines neuen Krieges rechnete.[25] Zwar ist für ihn der erste Weltkrieg noch nicht Vergangenheit, sind die Erinnerungen an die entbehrungsreichen Jahre hellwach, ist vor allem auch der Artikel 231 des Versailler Vertrages nicht vergessen, der Deutschlands Alleinschuld am Krieg feststellt, »eine in Deutschland noch immer offene und blutende Wunde«[26], dennoch vertraut Bonhoeffer darauf, daß die Deutschen »für den Frieden ihres Landes ... für den Frieden der Welt wirken« [27]werden. Auf der Jugendfriedenskonferenz des Weltbundes für Internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen sieht Bonhoeffer die Situation sachgemäßer. Er sieht die Welt vor der Katastrophe eines neuen Krieges stehen, dem die Ökumene den Kampf anzusagen habe: Der »heutige Krieg, also der nächste Krieg« muß »der Ächtung durch die Kirche«[28] verfallen!

Ächtung des Krieges heißt Kampf um den Frieden. Wie aber dieser Kampf auszutragen ist, das bleibt auch für Bonhoeffer zunächst noch eine offene Frage, die ihn zu recht unterschiedlichen Überlegungen führt. So meint er einerseits, gerade in einer parteipolitisch neutralisierten Arbeit[29] der Kirche ein echtes und ernst zu nehmendes Bollwerk gegen den Krieg aufrichten zu können, andererseits findet er - bei aller Gefahr einer »Verchristlichung der Politik« - die Durchsetzung des Friedensgebotes »unter Umständen auf dem Wege einer eigenen Partei« als »eine grundsätzliche Möglichkeit«[30]. Das Ringen um die Konkretion des Friedensgebotes wird Bonhoeffer vor allem durch die Kirche selbst erschwert, die stets versucht ist, »aus der letzten Solidarität mit der bösen Welt«[31] herauszutreten. Vor diesem Gebot der Solidarität mit der Welt sieht er die institutionalisierte Kirche in schwächlicher Hilflosigkeit stehen. Und sein Urteil über diese Kirche fällt denn auch entsprechend aus: »Kirche ist eine Vereinigung religiös veranlagter, interessierter und merkwürdigerweise ihre Religiosität gern in dieser Gestalt der Kirche betätigender Menschen. Diese gehören heute zumeist zu einer Gesellschaftsschicht, bei der weder besondere geistige Lebendigkeit noch besondere Gestaltungskraft, die in die Zukunft wiese, vielmehr höchstens eine gewisse Behaglichkeit in der eigenen Rechtschaffenheit als hervorstechendes Charakteristikum angegeben werden könnte. Die Luft ist hier ziemlich verbraucht, und der Horizont recht eng. Es scheint hier nicht viel vorzugehen. Im Kino ›geschieht‹ mehr, es ist wirklich interessanter.«[32]

Es geht Bonhoeffer bei weitem nicht um irgendeinen innerkirchlichen Blues-Messen-Aktivismus; sondern diese Kirche »in ihre politische Verantwortung und Entscheidung«[33] zu rufen, das gehört für ihn zum Kampf um den Frieden, den er sowohl in der Gemeinde als auch in der Ökumene führt.

III. Wider das Hinterweltlertum

Grundlegendes Element dieses Kampfes wird dabei die zwar noch nicht so formulierte, in der Sache aber bereits vollzogene Unterscheidung von ›Letztem und Vorletztem‹. Dies wird besonders deutlich in einem öffentlichen Vortrag vom November 1932: »Dein Reich komme! Das Gebet der Gemeinde um Gottes Reich auf Erden«.[34] Schon das programmatische Thema läßt aufhorchen, denn bisher hat Bonhoeffer gerade der (angelsächsischen) Theologie vom Reiche Gottes auf Erden äußerst kritisch gegenübergestanden. In diesem Vortrag nimmt er seine Kritik nicht zurück, er modifiziert vielmehr den Gedanken des Reiches Gottes auf Erden, und zwar dahingehend, daß er dem jenseitigen Reich im Letzten ein diesseitiges, vorletztes Reich Gottes auf Erden an die Seite stellt. Reich Gottes auf Erden heißt dabei allerdings nicht etwa »Erstarken der Kirche«, »Verchristlichung von Kultur und Politik und Erziehung« oder gar »Neuwerden christlicher Sitte«[35], sondern Gottes Reich auf Erden heißt nichts anderes als Da-sein-Gottes. »Wo aber Gott ist, ist sein Reich. Gott kommt immer mit seinem Reich.«[36] Und Gott kommt eben nicht mit seinem in der Kirche bezeugten und »alle Reiche der Erde ... durchbrechende(n) letzte(n) Reich der Auferstehung«[37]; sein Reich ist ebenso das »die Erde mit ihren Gesetzen, Gemeinschaften und ihrer Geschichte bejahende, erhaltene Reich der Ordnung«[38]. Die Konsequenzen dieses theologischen Ansatzes sind offenkundig und verpflichtend. Der Christ kann sich nicht in die Kirche zurückziehen, er hat sich vielmehr auch im gesellschaftlichen Leben, im Staat zu bewähren. Und so steht er gerade als Christ gleichsam »zwischen Kirche und Staat«[39].

Mit dieser Zwei-Reiche-Lehre überwindet Bonhoeffer die Aporie, die sich in seinem Weltbund-Vortrag bezüglich der friedenssuffizienten Wirksamkeit der Kirche ergibt. Im Weltbund-Vortrag kann Bonhoeffer zwar davon sprechen, daß die Kirche die Welt auffordern könne und solle, Frieden zu stiften und gerechte Zustände zu schaffen.[40] Aber Bonhoeffer geht davon aus, daß die Welt die »Stimme der Kirche nicht hören«, daß die Stimme der Kirche dem Staat »nicht Autorität«[41] sein könne. Damit ist zwar der Gefahr der Klerikalisierung gewehrt, aber es bleibt letztlich offen, wie denn das Gebot des Friedens von der Kirche verwirklicht werden kann. In »Dein Reich komme!« versucht Bonhoeffer hierauf eine Antwort zu geben: Der Christ lebt auch im Staat in der Ordnung Gottes. Des Christen Mitverantwortung für die Gesellschaft ist ein Gebot Gottes.

Wo diese politische Verantwortung von den Christen nicht wahrgenommen wird, da sieht Bonhoeffer tiefstes »Hinterweltlertum« sich ausbreiten. »Hinterweltlerisch sind wir, seit wir den bösen Kniff herausbekamen, religiös, ja sogar ›christlich‹ zu sein auf Kosten der Erde. Im Hinterweltlertum läßt es sich prächtig leben.« »Man überspringt die Gegenwart, man verachtet die Erde, man ist besser als sie, man hat ja neben den zeitlichen Niederlagen noch ewige Siege, die so leicht errungen werden. Mit dem Hinterweltlertum läßt es sich auch leicht trösten und predigen. Eine hinterweltlerische Kirche kann gewiß sein, daß sie alle Schwächlichen, alle nur zu gern Belogenen und Betrogenen, alle Phantasten, alle ungetreuen Söhne der Erde im Nu gewinnt.« »Der Mensch ist schwach, er erträgt die Nähe der Erde nicht, die ihn trägt. Er leidet sie nicht, weil sie stärker ist und weil er besser sein will als die böse Erde.« »Aber Christus will nicht diese Schwäche, sondern macht den Menschen stark. Er führt ihn nicht in Hinterwelten der religiösen Weltflucht, sondern er gibt ihn der Erde zurück als ihr treuer Sohn. Seid nicht hinterweltlerisch, sondern seid stark !«[42]

Bereits in einer Predigt vom Juni 1932 weiß Bonhoeffer eindringlich so zu argumentieren: »Denn wir sind an diese Erde gekettet. Sie ist der Ort, wo wir stehen und fallen. Und wehe uns Christen, wenn wir da zu Schanden werden, wenn es von dem Gottlosen am Ende heißen müßte: Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über vieles setzen, gehe ein zu deines Herrn Freude - weil er den irdischen Aufgaben, die ihm gestellt, irdisch getreu gewesen wäre, weil er gewuchert hätte mit den Talenten, die ihm anvertraut. Während es von uns Christen heißen müßte: und den unnützen Knecht werft in die Finsternis hinaus, weil wir unser Talent verborgen hätten in der Erde - vor lauter Trachten nach dem, was droben ist.«[43] »Daran entscheidet sich heute viel, ob wir Christen Kraft genug haben, der Welt zu bezeugen, daß wir keine Träumer und Wolkenwandler sind. Daß wir nicht die Dinge kommen und gehen lassen, wie sie sind, daß unser Glaube wirklich nicht Opium ist, das uns zufrieden sein läßt inmitten einer ungerechten Welt. Sondern daß wir, gerade weil wir trachten nach dem, was droben ist, nur um so hartnäckiger und zielbewußter protestieren auf dieser Erde. Protestieren mit Worten und Taten, um um jeden Preis voran zu führen. Muß es denn so sein, daß das Christentum, das einstmals so revolutionär begonnen, nun für alle Zeiten konservativ ist? Daß jede neue Bewegung ohne die Kirche sich Bahn brechen muß, daß die Kirche immer erst zwanzig Jahre hinterher einsieht, was eigentlich geschehen ist?«[44] An welche »neue Bewegung« Bonhoeffer hier denkt, bringt er in seiner Predigt erstaunlich offen zur Sprache, wenn er über den »Russenfilm ›Der Weg ins Leben‹»[45] spricht. Dieser Film, so stellt er fest, »hat manchen Menschen einen erschütternden Eindruck hinterlassen. Man sah, wie Banden verwahrloster, verbrecherischer Burschen von einem überlegenen Führer gesammelt und durch freiwillige und geordnete Arbeit aus Vagabunden zu Menschen gemacht wurden. Das Erschütternde daran war: Das Gebäude, darin diese Arbeitsgemeinschaft untergebracht wurde, war eine Klosterkirche. Die Geistlichkeit war vertrieben, Kultus und Gebet hatten ein Ende, aber nun flutete durch die Räume eine neue Zeit und ein großes irdisches Ziel: Menschen aus der irdischen Nacht zum irdischen Licht zu führen. Trachtet nach dem, was auf Erden ist!«[46]

IV. Friede und Gerechtigkeit

Daß Friede und Gerechtigkeit wesentlich zusammengehören, ist eine Erkenntnis, die Bonhoeffer bereits in Cernohorske Kupele zum Ausdruck bringt, wenn er unterstreicht: »Gemeinschaft des Friedens kann nur bestehen, wenn sie nicht auf Lügen und nicht auf Unrecht ruht. Dort, wo eine Gemeinschaft des Friedens Wahrheit und Recht gefährdet oder erstickt, muß die Friedensgemeinschaft zerbrochen und der Kampf angesagt werden.«[47] Weil es wahren Frieden nicht ohne Wahrheit und Gerechtigkeit gibt, deshalb ist »die Ordnung des äußeren Friedens nicht zeitlos gültig, sondern jeweils durchbrechbar, eben weil die völlige Vergewaltigung von Wahrheit und Recht das Hören der Offenbarung in Christus unmöglich zu machen drohen würde, so ist damit der Kampf grundsätzlich als Möglichkeit des Handelns im Blick auf Christus verständlich gemacht«[48]. Diese - schon 1932 gegebene - Begründung eines evangelischen Widerstandsrechts macht übrigens ansatzweise auch verständlich, warum die im Befreiungskampf ihrer Völker stehenden Theologen Lateinamerikas in Dietrich Bonhoeffer einen der wenigen europäischen Theologen sehen, von denen sie für ihr leidenschaftliches Eintreten für Gerechtigkeit und Freiheit tragende Inspirationen empfangen haben.

Bonhoeffer formuliert den Zusammenhang von Frieden und Gerechtigkeit durchaus nicht im Interesse bloßer Theoriebildung. Dafür kennt er die sozialen Nöte des Proletariats aus seiner Gemeindearbeit viel zu gut. Und er weiß durchaus: »Auf dem Arbeitsmarkt geht es im Grunde nur um die eine Frage: Wer kauft Menschen? Menschen werden wie Ware, die durch die Massenhaftigkeit entwertet wird.«[49] Er sieht, daß »die Aufspaltung der Gesellschaft in Klassen ... diese in immer schärferer Frontstellung gegeneinander« treibt und daß das Bürgertum auf Kosten des Proletariats um »die Erhaltung des bürgerlichen Geistes und seines Rechtes«[50] kämpft. Und er sieht schließlich auch, daß die »Geschichte des Westens ... eine Geschichte der Kriege« gewesen ist und daß »Krieg und Fabriken«[51] dabei zusammengehören.

Zwar bleiben diese Einsichten im einzelnen sehr bruchstückhaft, aber Bonhoeffers Erkenntnis des inneren Zusammenhangs von Frieden und Gerechtigkeit bewährt sich nach der Machtergreifung des Faschismus in beispielgebender Weise. »Dort, wo eine Gemeinschaft des Friedens Wahrheit und Recht gefährdet oder erstickt, muß die Friedensgemeinschaft zerbrochen und der Kampf angesagt werden«,[52] so lautete die These auf der Jugendfriedenskonferenz. Jetzt, knapp ein Jahr später, steht Bonhoeffer mitten in um sich greifender Lüge und Rechtlosigkeit. Und bereits am 1. Februar 1933 hält er seine antifaschistische Rede: »Der Führer und der einzelne in der Jungen Generation«[53] Und zwei Monate später ist er es, der dem Antisemitismus der Faschisten offen entgegentritt und die Kirche in die Entscheidung ruft: »Die Kirche ist den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören.«[54] Die Kirche habe darüber hinaus »nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen«[55].

V. Resignation oder Neuanfang

»Im Grunde hängt alles am Problem der Ethik, d. h. eigentlich an der Frage nach der Möglichkeit der Verkündigung des konkreten Gebotes durch die Kirche«[56], schreibt Bonhoeffer im August 1932 an E. Sutz. In seiner Arbeit über die theologische Begründung der Weltbundarbeit findet er die Antwort auf die ethische Frage in der Wirklichkeit als des Gebotes Sakrament. Mit der Machtergreifung des Faschismus entlarvt sich diese Wirklichkeit für Bonhoeffer jedoch immer offensichtlicher als das siebenköpfige Tier aus der Tiefe, der Staat als »Erhaltungsordnung« wird zum Dämon der Unordnung und Zerstörung. Angesichts dieser Diabolisierung der Welt steht Bonhoeffer vor der Frage nach Resignation oder Neuanfang. Die Resignation kommt bei ihm zum Ausdruck in der Abwendung von der »sakramentalen Wirklichkeit«, der Neuanfang spiegelt sich wider in der Hinwendung zum »Sakrament der Bergpredigt«.

In dieser Stimmung zwischen Resignation und Neuanfang begegnen wir dem Bonhoeffer der Fanöer Friedenskonferenz vom August 1954. Die Konferenz von Fanö ist von der ökumenischen Friedensbewegung nach dem zweiten Weltkrieg stets als ein Ereignis von wegweisender Bedeutung gewürdigt worden, und die 1961 abgehaltene I. Allchristliche Friedensversammlung der 1958 in Prag gegründeten Christlichen Friedenskonferenz hat sich zu Recht als Testamentsvollstrecker des in Fanö von Bonhoeffer geforderten ökumenischen Friedenskonzils verstanden.[57] Und nach 25 Jahren CFK hat sich endlich auch der Weltkirchenrat auf seiner VI. Vollversammlung 1983 in Vancouver diese Programmatik überzeugend zu eigen gemacht. Doch dürfen wir in der Analyse von Fanö nicht unterschlagen, daß Bonhoeffers Beurteilung der Ursachen des drohenden Krieges zu dieser Zeit von einer Geschichtsschau bestimmt ist, die hinter die erkenntnisträchtigen Aussagen von 1932 weit zurückfällt.

»Der Krieg«, so Bonhoeffer jetzt, »muß verstanden werden a) als bewußte Tat des menschlichen Willens, für die dieser in vollem Umfang verantwortlich ist, b) als Werk der gottfeindlichen dämonischen Mächte dieser Welt, analog Krankheit, Katastrophe, etc., c) als die Enthüllung einer Welt, die dem Gesetz des Todes verfallen ist.«[58] Vor dieser Trias muß offensichtlich die beste Friedensarbeit kapitulieren, es sei denn, sie hat ihren Beistand und Halt an dem, der oberhalb all dieser gottfeindlichen Mächte und Todesgesetze steht. Dieser Kriegsätiologie ist, soll ihr noch konkret begegnet werden, nur noch mit dem konkreten Gebot Gottes zu begegnen. »Daß der Mensch sich für den Frieden verantwortlich und doch den dämonischen Mächten unterworfen sieht, führt ihn zu der Erkenntnis, daß die Hilfe und die Lösung nur von Gott selbst gebracht werden kann.«[59]

Angesichts dieser so ausweglos erscheinenden Situation bekommt für Bonhoeffer die Bergpredigt eine neue, eine absolute Verbindlichkeit - als ultima ratio, als letzte Möglichkeit, Friedensstiftung nicht zur völligen Illusion werden zu lassen. »Der menschliche Wille muß konfrontiert werden mit dem Gebot: ›Du sollst nicht töten‹. Gott dispensiert nicht von der Erfüllung seines Gebotes. Der Mensch wird durch Übertretung vor Gott schuldig. Der Gott der Bergpredigt richtet ihn. Auf den Einwand: Der Staat muß erhalten werden - antwortet die Kirche: Aber du sollst nicht töten. Auf den Einwand: Der Krieg schafft Frieden, antwortet die Kirche: Aber du sollst nicht töten.« »Auf den Einwand: Die Liebe zum Nächsten zwingt mich dazu, antwortet die Kirche: Wer Gott liebt, hält seine Gebote.«[60] Dieser »Rückzug« auf die Bergpredigt widerspiegelt Bonhoeffers Kapitulation vor seiner eigenen Forderung nach einer rationalen Analyse der weltpolitischen Situation. »Die ›Welt‹ ist bei diesem Bonhoeffer nur noch ein bedrohlicher Dschungel, den es zu durchqueren gilt.« [61]

In diesem Gefälle ist auch Bonhoeffers ›Umdenken‹ hinsichtlich des Verhältnisses ›Kirche und Welt‹ zu sehen. Seinem großartigen Aufruf von 1932, sich doch endlich vom Hinterweltlertum loszusagen und zu begreifen, daß Gott nicht in erster Linie die Kirche, sondern die ganze Welt liebt, steht nun der Satz entgegen: »Friede soll sein, weil es eine Kirche Christi gibt, um deretwillen allein die ganze Welt noch lebt.«[62]

In »Nachfolge« (1937) ebenso wie in »Gemeinsames Leben« (1938) findet dieses ›Umdenken‹ seine Entfaltung. Weil Bonhoeffer den Friedensgedanken angesichts der diabolischen Mächte dieser Welt nur noch im Rückzug auf die Kirche festhalten kann, heißt wahre Nachfolge für ihn nun: »Verzicht auf das, was die Welt Glück und Frieden nennt«[63]. Und nur noch im gemeinsamen Leben der Christen ist überhaupt Frieden möglich, denn: »Ohne Christus ist Unfriede zwischen Gott und den Menschen und zwischen Mensch und Mensch. Christus ist der Mittler geworden und hat Frieden gemacht mit Gott und unter den Menschen. Christus hat den Weg zu Gott und zum Bruder freigemacht. Nun können Christen miteinander in Frieden leben.«[64]

VI. Von der Möglichkeit verantwortungsbestimmender Welterkenntnis

Es ist häufig darauf hingewiesen worden, daß Bonhoeffer mit der Arbeit an der »Ethik« erneut Themen und Fragestellungen aufgreift, die 1932 eine tragende Rolle zu spielen begannen, um danach zunächst in der Resignation an der Möglichkeit effektiver Weltgestaltung und Friedenserhaltung unterzugehen und durch eine ekklesiologische Introversion kompensiert zu werden. Die Bücher »Nachfolge« und »Gemeinsames Leben« spiegeln diesen Rückzug literarisch wider. Und vielleicht ist es die so empfundene Analogie der Situationen gewesen, die dazu führte, daß »Nachfolge« und »Gemeinsames Leben« nach 1945 in unseren Gemeinden zur beherrschenden Bonhoeffer-Lektüre wurden.

In der »Ethik« macht Bonhoeffer auf diesem seinem Rückweg halt; und selbst dort, wo er nun (etwa in dem Kapitel »Erbe und Verfall«) auch geschichtstheologisch argumentiert, wird doch zumindest deutlich, daß er die Geschichte und also die Weltwirklichkeit erneut als den großen Bezugshorizont seiner christlichen und theologischen Existenz versteht. Ist die »Ethik« noch spürbar von verschiedenen Widersprüchen gekennzeichnet, so schält sich doch aus diesem Widersprüchlichen eine neue Konstante heraus, die z.B. Bonhoeffers Frage zu erkennen gibt: Ist »es die einzige Aufgabe der Kirche, innerhalb gegebener weltlicher Ordnungen Liebe zu üben, d.h., sie nach Möglichkeit mit einer neuen Gesinnung zu beseelen, Härten auszugleichen, sich der Opfer dieser Ordnungen anzunehmen und innerhalb der Gemeinde eine eigene neue Ordnung herzustellen, oder hat die Kirche einen Auftrag gegenüber den gegebenen weltlichen Ordnungen selbst im Sinne der Korrektur, der Verbesserung bzw. des Hinarbeitens auf eine neue weltliche Ordnung«[65]

Hinter dieser erneuten Aufnahme eines 1932 bereits reflektierten Themas steht nun jedoch eine neue Grundeinsicht, die die Frage nach der weltlichen Ordnung nicht mehr scheitern läßt an der scheinbaren Undurchschaubarkeit weltlicher Verhältnisse. Diese neue Grundeinsicht beschreibt Bonhoeffer mit der Kategorie des »Natürlichen«, der die Kategorie der »Wirklichkeitsgemäßheit« korrespondiert. Beide zusammen bringen die Anerkennung von in Natur und Gesellschaft wirkenden Gesetzmäßigkeiten und zugleich die Bestätigung ihrer prinzipiellen Erkenntnismöglichkeit zum Ausdruck. So kann Bonhoeffer jetzt - faktisch in Aufnahme von Erkenntnissen des dialektischen und historischen Materialismus - betonen: »Jeder Sache wohnt ... ein Wesensgesetz inne, gleichgültig ob es sich um eine vorgefundene Naturgegebenheit oder um ein Erzeugnis des menschlichen Geistes ... handelt.« »Die Axiome der Mathematik und der Logik gehören ebenso hierher wie der Staat oder die Familie, wie eine Fabrik oder eine Aktiengesellschaft.«[66] In zutreffender Differenzierung zwischen Natur und Gesellschaft sieht Bonhoeffer durchaus auch die Schwierigkeit, die sich bei der Bestimmung gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten ergibt: »Je stärker eine Sache mit der Existenz des Menschen verbunden ist, desto schwerer ist es, ihre Wesensgesetze zu bestimmen.«[67] Doch bestimmbar sind sie, denn (so hebt Bonhoeffer faktisch in Übereinstimmung mit der Widerspiegelungstheorie hervor): »Die Angemessenheit der Vernunft für das Erfassen des Natürlichen hat ... ihren Grund« nicht »in der Spontaneität der Vernunft, die das Natürliche erst schüfe«. »Die Vernunft vernimmt im Gegebenen das Allgemeine, so ist auch das gegebene Natürliche, wie es die Vernunft vernimmt, ein Allgemeines. Es umfaßt die ganze menschliche Natur. Die Vernunft erkennt das Natürliche als allgemein Gesetztes, unabhängig von der Möglichkeit empirischer Nachprüfung. Natürliches und Vernunft verhalten sich zueinander wie Seins- und Bewußtseinsgestalt.«[68]

Diese Erkenntnis gewinnt Bonhoeffer zu einer Zeit, in der ihn Faschismus und Krieg höchst existentiell bedrohen. Und doch sieht er in dieser Bedrohung nun nicht mehr ein unabänderliches Schicksal, sondern er stellt sich ihr mit dem Vorsatz, sie durchschaubar zu machen und ihr so die Macht des Fatalen zu nehmen.

Hatte Bonhoeffer 1932 die ethische Relevanz sachgemäßer Entscheidungen herausgestellt, so entdeckt er in der »Ethik« die Voraussetzungen für die Sachgemäßheit ethischer Entscheidungen in den Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Entwicklungen, nunmehr herausstreichend: »Es gehört mit zur Wirklichkeitsgemäßheit des verantwortlichen Handelns, diese Gesetze aufzufinden und zu befolgen.«[69] Und: »sachgemäßes Handeln wird sich innerhalb dieser Gesetzlichkeiten halten und ihre Berücksichtigung nicht nur heucheln.«[70] Wenn sich Bonhoeffer in seiner Rechenschaftslegung an der Wende zum Jahre 1945 zum »Optimismus als Willen zur Zukunft«[71] spricht, dann steht hinter diesem Optimismus ebenso wie hinter dem Wissen um die »mündig gewordene Welt«[72] die Einsicht, daß der Mensch in seinem welt- und friedengestaltenden Handeln nicht der vermeintlichen Willkür und bloßen Zufälligkeit allen geschichtlichen und gesellschaftlichen Geschehens preisgegeben, sondern daß er zum eingreifenden Handeln berufen und befähigt ist. Weil der Natur und der Gesellschaft Gesetze innewohnen, weil also auch gesellschaftliche Prozesse nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten verlaufen, ist ihnen der Mensch nicht hilflos ausgeliefert, vielmehr vermag er kraft der Wirksamkeit dieser Gesetze Einfluß zu nehmen, indem er planvoll und gesetzmäßig und eben nicht willkürlich und spontan handelt. »Klugheit und Dummheit«, so betont Bonhoeffer in diesem Zusammenhang, »sind nicht ethisch indifferent.«[73] »Es ist eben doch so, daß der geschichtliche Erfolg den Boden schafft, auf dem weiterhin gelebt werden kann.«[74] Und die »letzte verantwortliche Frage ist ... wie eine kommende Generation weiterleben soll.«[75]

Angesichts der gegenwärtigen Bedrohung der Menschheit durch eine nukleare Katastrophe dürfte diese Frage heute nicht weniger aktuell sein. Im Gegenteil. Und angesichts dieser Bedrohung dürfte aktueller denn je Bonhoeffers Erkenntnis sein, daß wir den Kampf um die Erhaltung des Friedens und des Lebens nicht mit noch so gut gemeinten spontanen Aktionen und phantastischen Initiativen gewinnen werden, sondern allein in vollster Kenntnis der zum Kriege führenden Gesetzmäßigkeiten und also im konkreten Kampf gegen konkret diejenigen Kräfte, denen der Krieg zum profitablen Lebensgeschäft geworden ist.


[1] GS V, 259 (GS = D. Bonhoeffer, Gesammelte Schriften I bis VI, hg. von E. Bethge, München 1958-1978).

[2] GS I, 254.

[3] GS V,237.

[4] WEN, 359 (WEN = D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von E. Bethge, Neuausgabe, Berlin 1982.

[5] GS I, 145.

[6] GS I, 147.

[7] GS I, 145.

[8] GS V, 71.

[9] GS III, 528.

[10] GS V, 479.

[11] Ebd.

[12] Ebd.

[13] Ebd.

[14] GS V, 482.

[15] GS V, 457.

[16] GS V, 360.

[17] GS I, 142.

[18] GS I, 145 f.

[19] GS I, 147.

[20] GS I, 146.

[21] GS I, 145.

[22] GS I, 146 f.

[23] GS I, 147.

[24] GS I, 152.

[25] GS I, 417.

[26] GS I, 422.

[27] Ebd.

[28] GS I, 155.

[29] GS I, 178.

[30] GS III, 290.

[31] GS III, 286.

[32] GS III, 287.

[33] GS III, 290

[34] GS III, 270-285.

[35] GS III, 277.

[36] GS III, 278.

[37] GS III, 278 f.

[38] GS III, 279.

[39] GS III, 282.

[40] GS I, 157.

[41] Ebd.

[42] GS III, 271.

[43] GS IV, 70.

[44] GS IV, 71.

[45] GS IV, 70.

[46] Ebd.

[47] GS I, 153.

[48] GS I, 154.

[49] GS III, 259.

[50] GS III, 260.

[51] GS III, 265.

[52] GS I, 155.

[53] GS II, 22-38.

[54] GS II, 48.

[55] Ebd.

[56] GS I, 33.

[57] GS I, 219.

[58] GS I, 212.

[59] GS I, 214.

[60] GS I, 215 f.

[61] E. Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe - Christ - Zeitgenosse, München 1969 (3. Aufl.), 526.

[62] GS I, 217.

[63] E, 81 (E = D. Bonhoeffer, Ethik, zusammengestellt und hg. von E. Bethge, München 1949).

[64] GL, 10 (GL = D. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, Berlin 1980, 4. Aufl.).

[65] E, 250 f.

[66] E, 185 f.

[67] E, 184.

[68] E, 95.

[69] E, 184.

[70] Ebd.

[71] WEN, 25.

[72] WEN, 357.

[73] WEN, 19 f.

[74] WEN, 15.

[75] WEN, 16.

Zurück zum Anfang

Kirche als Ereignis. Anmerkungen zur Ekklesiologie Dietrich Bonhoeffers

[in: Dietrich Bonhoeffer - Gefährdetes Erbe in bedrohter Welt. Beiträge zur Auseinandersetzung um sein Werk, hg. von Heinrich Fink, Carl-Jürgen Kaltenborn und Dieter Kraft, Berlin 1987, S. 78-92]

Dietrich Bonhoeffer gehört zu den wenigen Theologen, deren literarisches Werk sich nicht beliebig interpretieren läßt, weil mit ihrem tatsächlichen Wirken eine hermeneutische Prävalenz gegeben ist, die sich selbst interpretiert und höchstens aus dem Wege geräumt, nicht aber widerlegt werden kann. Dabei mag der Streit um die Frage nach dem Dominierenden in der Wechselbeziehung zwischen Theologie und Biographie ruhig unentschieden bleiben, solange der Begriff des Biographischen nicht gesellschaftlich entleert und auf Familienverhältnisse reduziert oder gar unter die Psychologie subsumiert wird.

Es hat erstaunlich wenig Versuche gegeben, Bonhoeffer zu widerlegen. Karl Barth hat es da viel schwerer, jedenfalls was die Quantität seiner Gegner betrifft. Bonhoeffer hat keine Gegner. Lange genug waren es zwar nur Vereinzelte, die zu ihm standen, doch heute ist der Name - selbst für Bundeskanzler - ein Begriff geworden. Der „Störenfried“ muß niemanden mehr beunruhigen. Denn wer sich ganz und gar nicht auf ihn einlassen will, der kann ihn auch ungestraft ignorieren; und wer ihn nicht ignorieren kann, ohne sich auf ihn einlassen zu wollen, der geht halt „über Bonhoeffer hinaus“.

Noch umgibt Bonhoeffers Biographie seine Theologie wie eine Festung, die sich nicht ohne Lärm erstürmen läßt. Um so aufmerksamer registrieren die heimlichen Kritiker jene Brüche, die jede Festung bekommt, wenn sie nur lange genug steht. Und schon werden die ersten Pläne geschmiedet, diese Bastion des Widerstandes wenigstens umzufunktionieren, wenn sie sich schon nicht einebnen läßt.

Noch wirken solche Versuche spektakulär, und der Widerspruch eint das weit auseinandergerissene Lager seriöser Bonhoeffer-Interpretation. Doch hören kann man es bereits, daß der Antifaschist Bonhoeffer nunmehr als Kronzeuge des Neokonservatismus gefeiert werden soll, als potentielles Mitglied christlich-konservativer Parteien, als Traditionsheiliger für Kriegsminister und Vorbild für Bankmanager.

Literarisch widerspiegelt sich diese Tendenz bereits in dem Aufsatz von Rudolf von Thadden „Dietrich Bonhoeffer und der deutsche Nachkriegsprotestantismus“ [in: Ernst Feil (Hg.), Verspieltes Erbe? Dietrich Bonhoeffer und der deutsche Nachkriegsprotestantismus, München 1979, S. 12-27). York Spiegel („Dietrich Bonhoeffer und die ‚protestantisch-preußische Welt’“, in: ebd., S. 58-93) hat sich mit einer solchen Lesart auseinandergesetzt unter der Fragestellung, ob sich Bonhoeffer der CDU in der BRD angeschlossen hätte oder den Darmstädter Weg mitgegangen wäre (ebd., S. 59).

Daß diese Tendenz, Bonhoeffer für den politischen Konservatismus zu reklamieren, Schule zu machen beginnt, belegt z.B. der spektakuläre Auftritt des BRD-Verteidigungsministers anläßlich der Ehrung zum 40. Todestag Bonhoeffers im ehemaligen KZ Flossenbürg ebenso wie die Grußadresse des Bundeskanzlers der BRD zur Tagung des Internationalen Bonhoeffer-Komitees anläßlich des 80. Geburtstages Dietrich Bonhoeffers Anfang Februar 1986 in Berlin (West), bei der auch der Regierende Bürgermeister von Berlin (West) das Wort ergriff - unter starkem Protest zahlreicher Studenten der Kirchlichen Hochschule, denen offensichtlich auch die Rede Helmut Kohls vor dem „Deutschen Bankentag“ vom 26. 3. 1985 in lebhafter Erinnerung war. Kohl sagte damals laut Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung: „In wenigen Tagen, am 9. April, sind es 40 Jahre her, daß in Flossenbürg eine ganze Reihe der großen Männer dieses Jahrhunderts von den Nazis umgebracht wurde. DIETRICH BONHOEFFER war einer von ihnen. - Er hat am Tage seiner Hinrichtung ein Gebet hinterlassen. Wenn Sie dieses Gebet heute einmal nachlesen - 40 Jahre danach, in einer ganz anderen Zeit -, dann zeigt sich, daß dieser Mann im Angesicht des Galgens die Fähigkeit hatte, in sich Kontinuität zu spüren, zu tragen und zu vermitteln; daß er Gottvertrauen hatte und daß er trotz seiner - im Menschlichen gesehen - verzweifelten Lage auf die Zukunft setzte. - Was im Konzentrationslager Flossenbürg möglich war, müßte heute auf einem Bankentag oder anderswo auch möglich sein." (Zitiert nach: Weißenseer Blätter 1985, H. 3, S. 49)

 Jenem skurrilen Pathos, das den bürgerlichen Antifaschismus für die Ziele eines antisozialen Kapitalbürgertums reklamiert, entspricht auf der anderen Seite eine Bonhoeffer-Auslegung, die den antifaschistischen Widerstand von seinen politisch-historischen Bedingungen zu abstrahieren versucht, um so einen formalistischen Widerstandsbegriff zu gewinnen, der dann gegen jede Gesellschaft ins Feld geführt werden kann, vor allem gegen die sozialistische.

Wo diese Umfunktionierung nicht, nicht mehr oder noch nicht funktioniert, da greift heute noch immer oder schon wieder das bewährte Mittel der Neutralisierung. Auch Bonhoeffer kann man natürlich neutralisieren, indem man Wesentliches zu Unwesentlichem erklärt und Peripheres in den Mittelpunkt rückt - oder indem man die Einheit von Theologie und Biographie einfach auflöst zugunsten einer theologischen Systembildung, in der die Werk und Wirken umgreifende Geschichtlichkeit höchstens noch als Ideengeschichte zur Sprache kommt.

Eine andere Variante ist noch fataler: man errichte Bonhoeffer ein Denkmal und verschweige, daß es dem Widerstandskämpfer gebührt, dem konspirativen „Reichsverräter“, der für die Niederlage Hitlerdeutschlands gebetet hat und zum Tyrannenmord bereit gewesen ist und deshalb neben Kommunisten und Demokraten hingerichtet wurde.

Dieser Bonhoeffer weckt Ängste und schafft Beklemmungen, denn er paßt wohl auch morgen noch nicht in das Bild eines evangelischen Christen, das bekanntlich in neutralem Pastell und nicht vor rotem Hintergrund zu malen ist. Verlegenheit macht sich breit. Denn natürlich wagt kaum jemand, laut Einspruch zu erheben gegen diese radikale Konkretion christlicher Existenz. Es ist sicher nicht einmal der antifaschistische Widerstand an sich, der hier als Problem empfunden wird. Antifaschistisch wollen wir schließlich alle sein. Und sofern wir uns der Notwendigkeit enthoben wissen, dies in unserer Gesellschaft unter konkreten Beweis stellen zu müssen, wird Bonhoeffer erst recht keine Herausforderung in des Wortes entsprechender Bedeutung darstellen. Dennoch wird er als Herausforderung empfunden, und zwar deshalb, weil wir es bei Bonhoeffer mit jener Radikalität christlicher Existenz zu tun bekommen, die nicht nur unter den extremen Bedingungen des Faschismus bewährt sein will, sondern schlechthin zur Signatur christlicher Gemeinde gehört.

Das Wort Radikalität ist mit Bedacht gewählt. Zunächst weist es in die Tiefe. Es zeigt die Wurzel, der sich christliche Existenz verdankt. Es lenkt den Blick weg von der Gestalt dieser Existenz und führt ihn zu ihrer Begründung.

Diese Radikalität ist unbeliebt, weil sie buchstäblich rücksichtslos nur nach dem fragt, der allein und in aller Ausschließlichkeit Alpha und Omega eines Lebens ist, das sich christlich zu nennen wagt. Diese Radikalität ist unbequem, weil sie ständig daran erinnert, daß es christliches Leben an und für sich gar nicht gibt, es sei denn als jene Bindung an Christus, ohne die alle Christlichkeit nur Ideologie bleibt. Diese Radikalität ist anstößig, weil sie fortgesetzt zur Abkehr von einem Christentum auffordert, das sich in dieser Welt so wohnlich einzurichten verstanden hat, daß es auch ohne den Namen Christi eine beachtliche Weltreligion bleiben würde.

Wer Karl Barth „christologische Engführung“ zum Vorwurf macht, der muß auch Bonhoeffers radikalen Christomonismus verwerfen. Denn Bonhoeffers Theologie ist nun einmal nichts anderes als eine entfaltete Christologie.

Bereits „Sanctorum Communio“ illustriert das geradezu paradigmatisch an der Ekklesiologie: Kirche ist „Christus als Gemeinde existierend“. Die theologische Anthropologie in „Akt und Sein“ weiß nur um das „Sein in Christus“ als dem neuen Sein des Menschen. Glaubensgehorsam ereignet sich ausschließlich in der Nachfolge Christi [vgl. D. Bonhoeffer, Nachfolge, Berlin 1956 (2. Aufl.) (= N)]. Gemeinsames Leben gründet in der durch Christus geschaffenen neuen Gemeinschaft der Menschen [vgl. D. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, München 1979 (= GL)]. Selbst dort, wo sich Bonhoeffer von pragmatischen Erwägungen leiten läßt - wie etwa in dem „Ethik“-Kapitel „Erbe und Verfall“ [E, 30 ff. = D. Bonhoeffer, Ethik, Zusammengestellt und hg. von E. Bethge, München 1956 (3. Aufl.)], das die Erinnerung an die sog. „Einheit des christlichen Abendlandes“ in den Dienst der Mobilisierung einer möglichst breiten Front des bürgerlichen Antifaschismus stellt - selbst dort hält er konsequent an der christologischen Begründung fest und läßt sich nicht in einen allgemeinen Religionshumanismus abdrängen. Und was Bonhoeffer schließlich in „Widerstand und Ergebung“ „unablässig bewegt“, ist die Frage „Christus und die mündig gewordene Welt“, ist die Frage, „wer Christus heute für uns eigentlich ist“, wie „Christus der Herr auch der Religionslosen“ werden kann [WEN, 305, 358, 305 f. = D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von E. Bethge, Berlin 1972 (3. Aufl.)].

Für Bonhoeffer ist die Christologie kein Spezialfall der Theologie. In der Christologie-Vorlesung spricht er von der Christologie vielmehr als von der Wissenschaft „kat’exochen“ [GS III, 167. = D. Bonhoeffer, Gesammelte Schriften I bis VI, hg. von E. Bethge, München 1958-1978]. Damit ist mehr gesagt, als zum Ausdruck gebracht werden kann, wenn Bonhoeffers Christologie als die Mitte seiner Theologie beschrieben wird. Wäre die Christologie lediglich die Mitte der Theologie, dann bliebe ja noch offen, in welchem Maße denn nun die peripheren theologischen Fragen von dieser Mitte bestimmt werden. Es gibt auch Zentren, die sich nur noch mathematisch ermitteln lassen, weil ihr Umfeld so groß und bedeutend geworden ist, daß sie selber kaum noch zur Geltung kommen. Wenn sich Schöpfungsordnungen und Uroffenbarungen und Naturpredigten und Existentialismus und Klerikalismus und Religionismus theologisch nur irgendwie unterbringen lassen, dann wird niemandem daran gelegen sein, Christus die Mitte der Theologie streitig machen zu wollen. Für Bonhoeffer ist die Christologie nicht nur die Mitte der Theologie, die Theologie selbst ist ausschließlich Christologie.

Seit die Theologie im Reich der Wissenschaften nicht mehr als Königin regiert und nach und nach vom Streit der Fakultäten ausgeschlossen wurde, wirkt schon das Wort „Ausschließlichkeit“ bedrohlich. Nicht genug, daß sich die Naturwissenschaften dem theologischen Zugriff entzogen haben und die Gesellschaftswissenschaften der Theologen höchstens dort bedürfen, wo sie als Historiker ausgewiesen sind. Nun soll es der Theologie auch noch verwehrt sein, sich anders denn als christologisch zu verstehen. Das ist in der Tat radikal und eine Herausforderung vor allem für jene Theologie, die gerade von den Grenzen und auf der .Grenze lebt und immer noch versucht ist, den garstig breiten Graben zur mündig gewordenen Wissenschaft zuzuschaufeln oder wenigstens zu überbrücken.

Doch gerade in dieser christologischen Radikalität besteht das eigentliche Erbe der Reformation, das dann erst recht nicht preisgegeben werden darf, wenn es als Hypothek empfunden wird. Was „Christum treibet“ ist ja allein deshalb Norm reformatorischen Schriftverständnisses geworden, weil es zum reformatorischen Kriterium wahrhaft evangelischer Theologie wurde. Wäre es Wittenberg nur um Fragen der Christologie gegangen, hätte es keine Reformation gegeben. Der Reformation aber ging es um die christologische Ausrichtung der Theologie insgesamt. Das mußte zum Bruch mit Rom führen. Und wenn gegenwärtig mancherorts davon die Rede ist, dieser Bruch sei längst anachronistisch geworden, dann mag das wohl zutreffen für eine protestantische Theologie, die ihrerseits schon längst nicht mehr ausschließlich danach fragt, was „Christum treibet“.

Bonhoeffers radikale Konkretion christlicher Existenz findet ihre Entsprechung in einer christologisch konkretisierten Theologie, die ihn schließlich auch in die Lage versetzt, der faschistischen Unterwanderung protestantischer Theologie und Kirche kompromißlos zu widerstehen.

In diese christologische Theologie gehört nun auch eine Ekklesiologie, die Kirche ebenfalls ausschließlich von Christus her versteht und von Bonhoeffer im Vollzug antithetisch-polemischer Auseinandersetzung um die Rückgewinnung eines biblisch-reformatorischen Gemeindeverständnisses entwickelt wird.

Ekklesiologische Fragen nehmen in Bonhoeffers Gesamtwerk einen auffallend breiten Raum ein. Doch sein geradezu unnachgiebiges und anhaltendes Insistieren auf inhaltlicher Klärung dessen, was in Wahrheit Kirche genannt werden darf, verdankt sich weder einem sublimierten Klerikalismus, der von nichts anderem als von ‚seiner Kirche’ zu reden weiß, noch einem theologielosen Pragmatismus, dem das Funktionieren sog. ‚kirchlichen Lebens’ zum Maßstab lebendiger Gemeinde geworden ist. Bonhoeffers Frage nach der Kirche erwächst vielmehr aus der Fragwürdigkeit eines bürgerlichen Vereinskirchentums, das er bereits in „Sanctorum Communio“ als - wie er sagt - „fadenscheinig“ durchschaut hat [SC, 275 = D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, München 1960 (3. Aufl.)] und dessen religiösen Individualismus er unter Hinweis darauf attackiert, daß genuin theologischen Begriffen stets eine soziale Sphäre eignet.

Dabei ist bemerkenswert, daß Bonhoeffer diesen religiösen Individualismus bürgerlichen Vereinschristentums nicht bloß korrigieren will, etwa unter Hinweis auf eine gesellschaftsintegrative und also soziale Dimension der Religion. Vielmehr spricht er der Religion in „Sanctorum Communio“ eine kreative Sozialfunktion gerade ab. Seine Begründung hierfür wirkt überraschend, denn faktisch reflektiert Bonhoeffer mit ihr einen Grundgedanken marxistischer Religionskritik. Weil die Religion nur Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse ist, kann sie diese höchstens - wie Bonhoeffer wörtlich sagt - „regeln“ und „sanktionieren“ [SC, 259], denn: „Wie es kein menschliches Geistesleben gibt, das nicht in der Vergesellschaftung mindestens seinen mittelbaren Grund hätte, so hat das auch für die Religion Gültigkeit. Das Ich-Du-Verhältnis von Gottheit und Mensch, bzw. von Gottheit und Gemeinde, das so alt ist wie die Religion selbst, ist psychologisch überhaupt nur denkbar, wo der Sinn einer derartigen Relation im sozialen Leben erfahren wurde. Aber es gibt überhaupt keinen religiösen Inhalt, der nicht sein Gegenstück im rein gesellschaftlichen Prozeß fände.“ [SC, 256]

Wo Kirche sich nicht exklusiv von dem Ereignis der Offenbarung Gottes in Jesus Christus her versteht und bestimmen läßt, da ereignet sich in ihr lediglich eine religiöse Verdoppelung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse. In diesem Sinne spricht Bonhoeffer in „Sanctorum Communio“ jedenfalls betont polemisch von der „bürgerlichen Kirche“ in der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit [SC, 275 ff.]. Und er konfrontiert dieses - wie er sagt - „religiöse Mißverständnis der Kirche“ [SC, 83] mit eben jener herausfordernden These, deren provokatorischer Charakter allerdings verlorengeht, wenn man sie nur als Fündlein eines akademischen Schultheologen hört: Kirche ist „Christus als Gemeinde existierend“.

Diese von Bonhoeffer auch später noch gern verwendete Formulierung zielt darauf ab, einen biblisch-reformatorischen Anspruch zu erhärten, dem sich bürgerliches Religionschristentum stellen muß, wenn es nicht die Berechtigung verlieren will, Kirche genannt zu werden. Bereits Bonhoeffers Erstlingswerk hat, so meine ich, durchaus den Rang einer theologischen Kampfschrift, deren Kompromißlosigkeit gegenüber dem Kulturprotestantismus seiner Zeit lediglich durch die akademische Diktion moderate Züge bekommt. Den Tenor dieser Kampfschrift bestimmt Bonhoeffers Überzeugung, daß Kirche ausschließlich als eine Gemeinschaft sui generis Kirche sein kann, die - anders als alle anderen Gemeinschaften - gerade nicht auf dem Prinzip kollektiver Befriedigung gesellschaftlicher und individueller Bedürfnisse und Interessen gründet.

Wo sich Kirche einem Bedürfnis nach Gemeinschaft verdankt da wird sie ihrem Begriff ebensowenig gerecht wie dort, wo sich Kirche als ‚eigenständige gesellschaftliche Kraft’ zur Wahrnehmung der politischen Interessen ihrer Mitglieder versteht.

Weil die Kirche für Bonhoeffer eine buchstäblich eigenartige Gemeinschaft ist, deren Bedingtheit jenseits aller gesellschaftlichen Bedingungen ruht, bemüht er sich in „Sanctorum Communio“ um den Nachweis einer dieser Eigenartigkeit entsprechenden genuin theologischen Kirchensoziologie. Und „Akt und Sein“ ist der fortgesetzte Versuch, dieser Eigenartigkeit der Kirche durch die Entwicklung einer genuin theologischen Erkenntnislehre und durch die Entfaltung einer genuin theologischen Anthropologie Rechnung zu tragen.

Dabei ist er weit davon entfernt, die wissenschaftliche Soziologie und Erkenntnistheorie auf seine theologischen Ansprüche zurechtzustutzen, und er ist noch weiter davon entfernt, seine theologische Soziologie und Erkenntnislehre apologetisch einem allgemeinen Wissenschaftsbegriff zu verpflichten, der der Theologie vielleicht doch noch eine unkündbare Stellung in der universitas litterarum garantieren könnte. Und wenn Bonhoeffer von theologischer Anthropologie spricht, dann meint er damit alles andere als die Systematisierung philosophischer Fragestellungen des 18. und 19. Jahrhunderts.

Der Sitz im Leben der beiden Frühschriften „Sanctorum Communio“ und „Akt und Sein“ ist die Auseinandersetzung mit einem Kirchenbegriff, der Kirche zu einer kultpolitischen Einrichtung öffentlichen Lebens degradiert hat, der Kirche als kulturelle Vorfindlichkeit verrechnet und also damit rechnet, daß es Kirchen eben „gibt“ - ebenso wie es halt einen „Gott“ geben muß, sei es als philosophischen Gipfelbegriff oder als Garant moralischer Prinzipien oder als Lückenbüßer menschlicher Erkenntnis oder auch einfach nur als letzte Instanz religiöser Selbstverwirklichung. Doch: „Einen Gott, den ,es gibt’, gibt es nicht.“ [AS, 94 = D. Bonhoeffer, Akt und Sein. Transzendentalphilosophie und Ontologie in der systematischen Theologie, München 1956] Bonhoeffer will einer Ekklesiologie den Weg verlegen, die Kirche nicht mehr als Offenbarungsereignis, sondern als gesellschaftliche Gegebenheit versteht.

Diesem Ziel dient auch die Unterscheidung von realisierter, aktualisierter und empirischer Kirche in „Sanctorum Communio“, eine Unterscheidung, der eine höchst kritische Funktion zukommt. Indem Bonhoeffer von der in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus geschehenen „Realisierung“ der Kirche spricht, spricht er zugleich gegen eine Kirche, die sich von dieser Voraussetzung ihrer geistlichen Existenz getrennt hat und nun nur noch damit beschäftigt ist, ihre weltliche Existenz abzusichern und auszubauen. Indem Bonhoeffer von der durch den Heiligen Geist in dieser Welt vollzogenen „Aktualisierung“ der in Christus realisierten Kirche spricht, spricht er zugleich gegen eine Kirche, die sich auf die sogenannte Effektivität ihrer Strukturen mehr verläßt als auf das Wirken des Geistes Gottes. Und schließlich wendet sich Bonhoeffer mit der Unterscheidung von aktualisierter und empirischer Kirche zugleich gegen eine Kirche, die nicht mehr die Gefahr sieht, jederzeit auch als Nicht-Kirche erfunden werden zu können. Gerade hier nun versteckt sich die eigentliche Provokation der Bonhoefferschen Unterscheidung von realisierter, aktualisierter und empirischer Kirche. Die empirische Kirche ist nicht identisch mit der durch den Heiligen Geist aktualisierten Kirche, wiewohl die aktualisierte Kirche die sichtbare Gestalt der in Christus realisierten Kirche ist. Das aber bedeutet: Sofern empirische Kirche nicht aktualisierte Kirche ist, ist sie nicht mehr Kirche.

Bereits in „Sanctorum Communio“ artikuliert sich denn auch Bonhoeffers Unbehagen gegenüber dem Begriff der „Volkskirche“, den er nur in Verbindung mit dem der „Freiwilligkeitskirche“ gelten lassen will. Und selbst dieses bloß bedingt, denn: „Es gibt nun für die Kirche einen Zeitpunkt, in dem sie nicht mehr Volkskirche sein darf, und dieser Zeitpunkt ist dann gekommen, wenn die Kirche in ihrer volkskirchlichen Art nicht mehr das Mittel sehen kann, zur Freiwilligkeitskirche durchzudringen.“ [SC, 164]

Später wird Bonhoeffer im Blick auf die Volkskirche nur noch von einer „Quasikirche“ sprechen [GS II, 244] und sich damit noch heute den Zorn einer Kirchengeschichtsschreibung zuziehen, die den Kirchenkampf primär an der Frage mißt, welche Kräfte sich in ihm um die Erhaltung der Volkskirche verdient gemacht haben.

Wenn in „Sanctorum Communio“ von der Notwendigkeit des „Streben(s) nach der wahren Kirche und der reinen Lehre“ die Rede ist [SC, 207], dann zielt dies nicht auf einen konventikelhaften Purismus und erst recht nicht auf jenen Gegensatz zur Volkskirche, der gar dort gesucht werden müßte, wo sich Kirche innerkirchlich am reinsten als Kirchenleitung präsentiert.

Bonhoeffer geht es nicht um die „reine Kirche“, er will die „wahre Kirche“. Doch allein schon die Frage nach der „wahren Kirche“ ist natürlich unbequem, wenn mit ihr mehr als nur ein Theologumenon der Dogmatik angesprochen werden soll. Und vollends unbequem und nicht nur ungewöhnlich sind und bleiben Bonhoeffers Antworten.

Aber eigentlich müßte man im Singular formulieren: Bonhoeffers Antwort. Denn wenn diese auch zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Akzente trägt, so ist sie doch insgesamt von einer inneren Kontinuität geprägt, die in der ausschließlichen Bindung der Kirche an Christus ihre Konstante hat und nur insofern variabel wird, als Bonhoeffer zunehmend konsequenter darauf insistiert, daß wahre Kirche ihre Christusbindung je und je konkret in Wort und Tat bezeugen muß.

Zunächst ist Bonhoeffers Ringen um das Verständnis von wahrer Kirche fast ausschließlich bestimmt durch die christologische Einbindung der Ekklesiologie, also auch durch die Auseinandersetzung mit einem Kirchenbegriff, der nicht wesentlich auf die Offenbarung bezogen ist, sondern in einem allgemeinen Religionsbegriff gründet. „Der Begriff der Kirche“, so heißt es in „Sanctorum Communio“, „ist nur denkbar in der Sphäre der gottgesetzten Realität, d.h. er ist nicht deduzierbar. Die Realität der Kirche ist eine Offenbarungsrealität, zu deren Wesen es gehört, entweder geglaubt oder geleugnet zu werden.“ [SC, 85]

Mit der empirischen Realität dieser Kirche kommt Bonhoeffer nun aber zunehmend in Konflikt, denn die Kirche, die er erlebt, scheint alles andere, nur nicht Offenbarungsrealität zu sein. Entsprechend hart fällt denn auch sein Urteil aus.

In der Ekklesiologie-Vorlesung (1932) beschreibt er diese verweltlichte Kirche als eine Organisation, die sich nur noch - wie er sagt - „an bevorzugten Orten“ antreffen läßt, nämlich dort, „wo die Verbindung zur inzwischen verlorengegangenen Zeit ihrer (einstigen) Orthaftigkeit noch gepflegt wird“, nämlich im „unechten Konservativismus, der sich an Altes klammert“ [GS V, 232]. Und in dem Aufsatz „Was ist Kirche?“ (1932) lesen wir sicher auch noch heute mit Betroffenheit: „Kirche ist eine Vereinigung religiös veranlagter, interessierter und merkwürdigerweise ihre Religiosität gern in dieser Gestalt der Kirche betätigender Menschen. Diese gehören heute zumeist zu einer Gesellschaftsschicht, bei der weder besondere geistige Lebendigkeit noch besondere Gestaltungskraft, die in die Zukunft wiese, vielmehr höchstens eine gewisse Behaglichkeit in der eigenen Rechtschaffenheit als hervorstechendes Charakteristikum angegeben werden könnte. Die Luft ist hier ziemlich verbraucht und der Horizont recht eng.“ [GS III, 287] Und geradezu resignierend heißt es an anderer Stelle: „Kirche ist ein Stück Welt, verlorene, gottlose, unter den Fluch getane, eitle, böse Welt; und böse Welt in der höchsten Potenz, weil in ihr der Name Gottes mißbraucht, weil in ihr Gott zum Gespielen, zum Abgott der Menschen gemacht wird, ja ewig verlorene, antichristliche Welt schlechthin, wenn sie aus der letzten Solidarität mit der bösen Welt heraustritt und sich gegen die Welt aufspielt“ und „rühmt“ [GS III, 286].

Wohlgemerkt, Bonhoeffer schreibt diese Sätze nicht im Gefecht des Kirchenkampfes, weder gegen die Deutschen Christen noch gegen die Reichskirchenregierung. Er schreibt sie 1932, also in jenem Jahr, an das dann deutsche Kirchenführer nach dem 8. Mai 1945 möglichst nahtlos wieder anzuknüpfen gedachten und dabei auch noch von kirchlicher „Erneuerung“ sprachen. Noch ist für Bonhoeffer dieses Urteil kein letztes Wort. Noch hofft er, daß Gott selbst diese Kirche - wie er sagt - „in Beschlag nimmt“ und nicht „freigibt“ [GS III, 286]. Doch schon sieht er auch, daß diese Kirche kaum mehr in der Lage ist, das Wort Gottes gültig zu bezeugen.

Kirche ist „Christus als Gemeinde existierend“, ist - wie Bonhoeffer auch sagen kann - „Gegenwart Gottes in der Welt“ [GS III, 286]. Weil aber Gott ausschließlich in seinem Worte gegenwärtig ist, bleibt die christologische Begründung der Kirche verknüpft mit der Bedingung der Gegenwart des Wortes Gottes in der Verkündigung der Gemeinde.

Dieser Zusammenhang wird von Bonhoeffer zunächst nicht besonders thematisiert und mehr vorausgesetzt denn als Problem entwickelt. Doch auch schon in der Periode der christologischen Begründung der Kirche beginnt sich abzuzeichnen, daß gerade diese Frage im Kirchenkampf von zentraler Bedeutung werden mußte.

Schon in „Sanctorum Communio“ weiß Bonhoeffer um diesen Zusammenhang, wenn er - allerdings noch mehr beiläufig - erklärt: „Mag die empirische Gestalt (der Kirche) noch so fragwürdig sein, sie bleibt als solche Kirche, solange Christus in seinem Worte gegenwärtig ist.“ [SC, 155] In dem Aufsatz „Was ist Kirche?“ heißt es bereits konkretisierter: „Als Kirche Gottes in der Welt bewährt sich die Kirche durch nichts anderes als durch die rechte Ausrichtung der Botschaft des Evangeliums, durch rechte Verkündigung von Gnade und Gebot.“ [GS III, 288]

Was aber geschieht, wenn sich Kirche nicht bewährt, wenn sie statt der Gnade ein Gebot und statt des Gebots eine billige Gnade verkündigt, was geschieht, wenn das Evangelium in ihrer Botschaft kaum noch zu vernehmen ist, wenn Kirche nur noch zum Botschafter eigener Ansprüche wird? Ist das dann nur die schwache Kirche, die ihre Schwachheit in der Kraft Gottes überwunden wissen darf? Ist das dann nur die ungehorsame Kirche, die ihren Ungehorsam von Gott ertragen wissen darf? Ist das dann nur die untreue Kirche, die ihre Untreue in der Treue Gottes aufgehoben wissen darf? Oder ist das dann die abgefallene Kirche, die als solche aufhört, Kirche zu sein?

Im Dezember 1932 schreibt Bonhoeffer an Helmut Rößler: „Über eines besteht, glaube ich, Übereinstimmung, nämlich, daß unsere Kirche heute das konkrete Gebot nicht sagen kann. Fraglich ist nur, ob dies in ihrem Wesen - ... in ihrer Begrenztheit durch die Eschata - liegt, oder ob das Abfall und Verlust der Substanz ist.“ [GS I, 63] Bonhoeffers Frage wiegt um so schwerer, als er unter Verkündigung des Gebotes nun nicht einfach die Predigt allgemeingültiger Prinzipien einer immergültigen „christlichen Ethik“ versteht. Eine „christliche Ethik“, die „es gibt“, gibt es für ihn gerade nicht. „Die Kirche darf ... keine Prinzipien verkündigen, die immer wahr sind, sondern nur Gebote, die heute wahr sind. Denn, was ,immer’ wahr ist, ist gerade ‚heute’ nicht wahr. Gott ist uns ,immer’ gerade ,heute’ Gott.“ [GS I, 145]

In dem großen Vortrag „Zur theologischen Begründung der Weltbundarbeit“ vom Juli 1932 entfaltet Bonhoeffer dieses Prinzip der Konkretion des Gebotes in einer bemerkenswerten Souveränität gegenüber traditioneller protestantischer Ethik. „Ein Gebot muß konkret sein oder es ist kein Gebot. Gottes Gebot fordert etwas ganz Bestimmtes jetzt von uns. Und die Kirche soll dies der Gemeinde verkündigen.“ [GS I, 146] Woher aber weiß sie darum, was hier und heute als Gebot Gottes geltend gemacht werden muß, wenn sie sich in der Konkretisierung weder auf „biblische Gesetze“ noch auf sogenannte „Schöpfungsordnungen“ [GS I, 149] berufen kann?

Die Kirche - so Bonhoeffer - weiß um das konkret Gebotene allein durch die „Kenntnis der konkreten Wirklichkeit“ [GS I, 147]. Die „Gültigkeit ihres Gebots“ ist „abhängig ... von ihrer detaillierten Sachkenntnis“. Die „Sachzugewandtheit“ ist „Vorbedingung für ein wirkliches Gebot und macht andererseits jedes ihrer Gebote immer wieder unsicher, weil abhängig von der vollen Kenntnis der Wirklichkeit“ [GS I, 146 f.]. Deshalb gibt es für die Kirche nur zwei Möglichkeiten: entweder sie wagt das konkrete Gebot oder sie schweigt qualifiziert [GS I, 147].

Bonhoeffer entwickelt in dem Weltbundvortrag diese Überlegungen im Vorfeld der Frage, was die Kirche angesichts der akuten Bedrohung des Weltfriedens als konkretes Gebot Gottes zu verkündigen hat. Und es gehört schon - gelinde gesagt- Kühnheit dazu, ausgerechnet diesen Text als eine ‚Absage an die politische Rationalität bei der inhaltlichen Bestimmung des Friedensgebotes Gottes’ zu interpretieren.

Ist Kirche noch wahre Kirche, wenn sie das konkrete Gebot nicht sagen kann und vielleicht auch gar nicht sagen will - aus Unkenntnis oder Ignoranz oder aus Angst davor, nicht mehr als neutral gelten zu können, weil das konkret Gebotene keine Konzilianz duldet, sondern in die Entscheidung und also auch zur Scheidung ruft?

1933 wird es definitiv, daß dort von Abfall und Verlust der Substanz gesprochen werden muß, wo die Kirche das konkrete Gebot nicht verkündigt, wo sie nicht gebietet, sich den Opfern des Faschismus „in unbedingter Weise verpflichtet“ zu wissen, „auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören“, wo sie nicht im Namen Gottes gebietet, „dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“ und „nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden“ [GS II, 48]. Es ist kein Zufall, daß Bonhoeffer heute zu jenen wenigen europäischen Protestanten gehört, deren Theologie für die um Befreiung kämpfenden Christen Lateinamerikas und Südafrikas von besonderer Bedeutung geworden ist.

Bonhoeffers erste Reaktionen auf den 30. Januar 1933 sind Zeugnisse eines politischen Widerstandes, der sich als Konkretion des von Gott Gebotenen versteht. Und es ist bezeichnend, daß das Wort vom „Status confessionis“ bei ihm erstmalig dort fällt, wo er in seinem Vortrag „Die Kirche vor der Judenfrage“ vom April 1933 einen solchen Widerstand als der Kirche gebotenes Handeln in Erwägung zieht. Als er im Oktober 1933 Berlin verläßt und nach London geht, da sieht er sich mit solchen Konkretionen selbst gegenüber seinen Freunden isoliert und in „radikaler Opposition“, wie er an Barth schreibt [GS II, 132].

Der Theologe Bonhoeffer kämpft um die christologische Begründung der Ekklesiologie. Der Christ Bonhoeffer kämpft um das dieser christologischen Begründung entsprechende Zeugnis seiner Kirche und muß dabei die Erfahrung machen, daß dieses Zeugnis selbst in der Bekennenden Kirche umstritten ist. So wird für ihn der Kirchenkampf denn auch eigentlich nicht ein Kampf gegen die deutsch-christliche Häresie und ihre organisatorische Gestalt, sondern ein Kampf um das rechte Zeugnis seiner, der Bekennenden Kirche. Der Kampf gegen den „Antichristen“ [GS I, 254] ist für Bonhoeffer längst entschieden, als andere noch daran herumdeuteln, ob denn nun wirklich so endgültig gesagt werden müsse: „Wer sich wissentlich von der Bekennenden Kirche in Deutschland trennt, trennt sich vom Heil.“ [GS II, 238]

Wo der Antichrist ist, da ist „antichristliche Kirche“ [GS II, 227], da ist „Nicht-Kirche“ [GS II, 220], mit der es keine Gemeinschaft geben kann, nicht einmal in jener Beziehung, die in der Auseinandersetzung ihren Ausdruck findet. Gegenüber der deutsch-christlichen Nicht-Kirche gilt einzig der Bekenntnissatz: „Die Bekennende Kirche ist die wahre Kirche Jesu Christi in Deutschland.“ [GS II, 220] Weil die Deutschen Christen nicht mehr zur Kirche Jesu Christi gehören, sind sie für Bonhoeffer auch nicht mehr das entscheidende Thema des Kirchenkampfes. Entscheidend ist für ihn vielmehr die Frage, ob sich die Bekennende Kirche bewährt, und nun nicht nur in dem Nein gegen Häresie und Irrlehre, sondern darüber hinaus in dem Ja zum Tun des Gerechten. Und um eben diese Bewährung geht es in „Nachfolge“.

Im Zentrum dieser programmatischen Kampfschrift steht wieder der konkrete Gehorsam gegenüber dem konkreten Gebot. Insofern ist „Nachfolge“ ein betont einseitiges Buch. Es betont jene Seite kirchlichen Zeugnisses, die Bonhoeffer an der Bekennenden Kirche weitgehend vermißt. In „Nachfolge“ widerspricht er einer Kirche, deren Verkündigung - wie er sagt - nicht zum „Geschehnis“ wird, deren Predigt nicht zum „Ereignis“ der „Tat“ führt, die als solche die Verkündigung bezeugt [N, 179]. Weil geschieht, was Gott spricht, muß auch das Wort der Kirche, so es Wort Gottes ist, zum „Werk“ werden [N, 179]. „Die Gnade Jesu fordert den Täter, das Tun wird so die rechte Demut, der rechte Glaube, das rechte Bekenntnis zur Gnade des Berufers.“ „Bekenner und Täter sind voneinander geschieden“ [N, 169]. „Mitten durch die bekennende Gemeinde hindurch wird die Scheidung gehen. Das Bekenntnis verleiht keinerlei Anrecht auf Jesus. Niemand kann sich einmal auf sein Bekenntnis berufen. Daß wir Glieder der Kirche des rechten Bekenntnisses sind, ist kein Anspruch vor Gott. Wir werden nicht auf Grund dieses Bekenntnisses selig werden. Denken wir dies, so tun wir Israels Sünde, das aus der Gnade der Berufung ein Recht vor Gott machte. Wir sündigen so gegen die Gnade des Berufers. Gott wird uns einmal nicht fragen, ob wir evangelisch gewesen sind, sondern ob wir seinen Willen getan haben.“ [N, 168] „Jesus kennt nur eine einzige Möglichkeit: einfach hingehen und gehorchen. Nicht deuten, anwenden, sondern tun, gehorchen. So allein ist Jesu Wort gehört. Aber auch wieder nicht vom Tun als von einer idealen Möglichkeit reden, sondern wirklich mit dem Tun anfangen.“ [N, 171]

Eindeutiger kann man 1937 nicht zum antifaschistischen Widerstand aufrufen, wenn man noch gedruckt werden will. Aber eindeutiger braucht man 1937 auch nicht dazu aufzurufen - es sei denn, man muß eine Kirche in Bewegung setzen, die vor der Eindeutigkeit der Tat gerade zurückschreckt, weil sie im Tun des Gerechten der Mehrdeutigkeit als einer letzten Rückversicherung zur Welt entzogen wird.

„Nachfolge“ ist ein Buch über „Christus für uns heute“, und gerade darin ist es ein Buch des Widerstandes. Der theologische Christus von „Sanctorum Communio“ und „Akt und Sein“ bekommt in „Nachfolge“ ein jesuanisches Gesicht. Er wird erkennbar als der um anderer willen verworfene, ausgestoßene, leidende und sterbende Jesus [N, 60].

„Nachfolge“ ist ein Buch über die Kirche „für andere“ [N, 64], und gerade darin ist es ein Buch der Nachfolge Jesu. Der theologische Begriff der Kirche in „Sanctorum Communio“ und „Akt und Sein“ bekommt in „Nachfolge“ seine jesuanische Konkretion. Kirche muß erkennbar werden als Kirche unter dem Kreuz. „Wie Christus unsere Last trägt, so sollen wir die Last der Brüder tragen, das Gesetz Christi, das erfüllt werden muß, ist das Kreuztragen.“ [N, 64]

Als Bonhoeffer an seiner „Ethik“ arbeitet, hat ihn die Nachfolge bereits auf einen Weg geführt, den er ohne seine Kirche gehen muß. In der „Ethik“ reflektiert er beides: die Einwände der „Gewissenhaften“ und „Vernünftigen“, der „Tugendhaften“ und „Pflichtbewußten“ gegen den konkreten Gehorsam im Zeugnis der Tat [E, 12 ff.] und das Maß der Verantwortung, das sich größer erweist als das Maß der Schuldübernahme [E, 186 f.]. Die „Ethik“ ist Bonhoeffers letzter Versuch, seine Kirche zum Zeugnis des Widerstandes zu bewegen. Ein Versuch, der sich den Einwänden mit einer Fülle von Argumenten in den Weg stellt. Das „Letzte“ darf nicht vom „Vorletzten“ getrennt werden [E, 85 ff.], das „Natürliche“ empfängt seine „Bestätigung durch Christus selbst“ [E, 94], bei dem auch „Recht und Wahrheit und Menschlichkeit“ Zuflucht suchen [E, 162]. Teilhabe an der „Gotteswirklichkeit“ ist zugleich Teilhabe an der „Weltwirklichkeit“ [E, 60]. „Christusgemäßes Handeln“ ist „wirklichkeitsgemäßes Handeln“ [E, 178]. „Die ,Welt’ ist ... der ... in und durch Jesus Christus gegebene Bereich der konkreten Verantwortung“ [E, 181]. Und ganz zentral natürlich auch in der „Ethik“ der Satz: „die einzig angemessene Haltung der Menschen vor Gott (ist) das Tun seines Willens“ [E, 149].

Ist Kirche noch Kirche Gottes, wenn sie sich dem Tun seines Willens versagt, wenn sie versagt, seinen Willen zu tun? Schon die Frage als solche ist provokant, zudem viel zu direkt gestellt und nahe der Grenze zur Theologielosigkeit. Aber eben diese Frage muß man ertragen können, wenn man Bonhoeffers Frage nach der Kirche und dann vor allem auch jenes Fazit ertragen will, das er in den Briefen und Aufzeichnungen aus der Haft zieht und vor dem man sich eigentlich nur dadurch schützen kann, daß man seine provozierende Einseitigkeit mit der extremen Gefängnissituation verrechnet oder das Ganze einfach zum Fragment erklärt. Jedenfalls lesen wir in „Widerstand und Ergebung“ - und Bonhoeffer schreibt dies als Theologe, nicht als Ethiker: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ [WEN, 415] Und auch dieser Satz erfährt seine christologische Begründung, denn Jesus ist „der Mensch für andere“, und „Glauben ist das Teilnehmen an diesem Sein Jesu“, an seinem „Für-andere-Dasein“ [WEN, 414].

Wenn Kirche „Jesus als Gemeinde existierend“ ist, dann muß „alles Denken, Reden .und Organisieren in den Dingen des Christentums ... neugeboren werden“ [WEN, 328], denn dann besteht das Sein der Kirche in jenem Für-Sein, das Kirche je und je Ereignis werden läßt.

Zurück zum Anfang